BVerfG rügt Pressesenat des OLG Hamburg
Das OLG Hamburg hat das Magazin „DER SPIEGEL“ in seinem Recht auf prozessuale Waffengleichheit verletzt. Der Pressesenat hatte eine einstweilige Anordnung erlassen, nachdem die Antragstellerin ihre zunächst unbegründeten Anträge mehrfach umformuliert hatte. "DER SPIEGEL" wusste von nichts. Das BVerfG zeigt sich mehr als konsterniert.
Es ist schon wieder passiert, und nun scheint des dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu reichen: Der Pressesenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamburg hat erneut per einstweiliger Verfügung eine Presseberichterstattung untersagt, ohne dem betroffenen Presseorgan zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
Dem am Freitag vom BVerfG veröffentlichten Beschluss (v. 01.12.2021, Az. 1 BvR 2708/19) lag ein einstweiliges Verfügungsverfahren zugrunde, mit dem ein Reiseunternehmen, das Kreuzfahrten anbietet, sich gegen ein bei „Spiegel Online“ veröffentlichtes kritisches Interview zum Thema Kreuzfahrten wandte, in dem das Unternehmen erwähnt wurde.
Auf die Abmahnung des Unternehmens änderte der Spiegel nichts. Auf einen Antrag beim Landgericht auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, der der Unterlassungserklärung in der geforderten Abmahnung entsprach, wies das LG darauf hin, dass das Unternehmen damit keinen Erfolg haben werde. Es formulierte daraufhin seinen Antrag um und ergänzte zwei Hilfsanträge, doch das LG blieb dabei und wies den Antrag auch in dieser Form zurück. Der daraufhin eingeschaltete Pressesenat des OLG Hamburg teilte dem Unternehmen mit, dass nur einem ganz bestimmten Antrag stattgegeben würde, woraufhin dieses seine übrigen Anträge zurücknahm. Das OLG erließ nun eine einstweilige Unterlassungsverfügung ohne mündliche Verhandlung gegen den „Spiegel“. Dieser war zuvor nicht angehört worden und wusste nichts von dem Verfahren.
Recht auf prozessuale Waffengleichheit offenkundig verletzt
Diese Verletzung des Rechts des „Spiegel“ auf prozessuale Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) bezeichnet die 2. Kammer des Ersten Senats als „offenkundig“. Mit deutlichen Worten, stets sich selbst zitierend, weist das BVerfG auf die Bedeutung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit hin, das im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG stehe: In einem gerichtlichen Verfahren muss die Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör finden und damit die Gelegenheit bekommen, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen. Nur in Ausnahmefällen sei eine vorherige Anhörung entbehrlich, die Gegenseite müsse grundsätzlich stets die Möglichkeit haben, auf das geltend gemacht Vorbringen zu erwidern.
Dabei darf das Gericht im Äußerungsrecht durchaus auch einbeziehen, was die Gegenseite zur Abmahnung vorgetragen hat. Das reiche aber nur aus, stellt das BVerfG erneut klar, wenn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung sofort nach Ablauf der Frist zur Unterlassungserklärung eingereicht und genauso begründet wird wie die Abmahnung und die Unterlassungserklärung. Außerdem müsse sichergestellt sein, dass der Antragsteller dem Gericht auch den gesamten Vortrag – auch den der Gegenseite – vorgelegt hat.
Wenn aber der Antrag vor Gericht anders oder weitergehend begründet wird als in der Abmahnung, sei der Gegenseite rechtliches Gehör zu gewähren, wiederholt das BVerfG. Besonders gelte das, wenn das Gericht dem Antragsteller im Verfahren Hinweise erteilt, von denen die Gegenseite sonst gar nicht oder aber erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfährt. So geschehen auch in dem Verfahren, über das Karlsruhe nun entschied: Das antragstellende Unternehmen habe flexibel auf die gerichtlichen Hinweise reagieren und nachsteuern können, um die einstweilige Verfügung zu erhalten. Der „Spiegel“ hingegen habe nicht einmal von dem Verfahren gewusst und hatte keine Möglichkeit, auf die nach den gerichtlichen Hinweisen veränderte Sach- und Streitlage zu reagieren.
Beim nächsten Verstoß gegen die Waffengleichheit: Wiederholungsgefahr indiziert
Das BVerfG lässt es dabei nicht bewenden. Es nimmt ein Rechtsschutzbedürfnis des „Spiegel“ an, obwohl die einstweilige Verfügung des LG zwischenzeitlich schon wieder aufgehoben wurde. Es geht nämlich von einer Wiederholungsgefahr aus. Nicht nur, weil es sich nach dem Vortrag des „Spiegel“ bei der Vorgehensweise des Pressesenats des OLG Hamburg nicht um einen Einzelfall handele. Vielmehr mache auch die von der Justizbehörde übermittelte Stellungnahme des Pressesenats „deutlich, dass bei diesem offenbar Missverständnisse hinsichtlich der Anforderungen der prozessualen Waffengleichheit bestehen“, heißt es in dem Beschluss wörtlich. Bloß auf den Streitgegenstand abzustellen, um zu ermitteln, ob Abmahnung und Verfügungsantrag im o.g. Sinne deckungsgleich sind, „geht an den verfassungsrechtlichen Anforderungen vorbei“.
Weiter heißt es in dem Beschluss: „Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, ist mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar.“
Schließlich weist die 2. Kammer des Ersten Senats den Pressesenat ausdrücklich darauf hin, dass die Instanzgerichte an Entscheidungen des BVerfG gebunden sind. Und knüpft an den „wiederholte(n) Verstoß des Pressesenats des OLG gegen das Gesetz der Waffengleichheit bei einstweiligen Anordnungen“ sogar unmittelbare Rechtsfolgen: Das BVerfG kündigt an, bei zukünftigen Verstößen gegen die Waffengleichheit durch den Pressesenat des OLG Hamburg stets davon auszugehen, dass ein Feststellungsinteresse für eine Verfassungsbeschwerde oder einen Antrag auf einstweilige Anordnung besteht. Anders ausgedrückt: Wenn der Pressesenat des OLG Hamburg künftig wieder einmal die Presse nicht anhört, geht das BVerfG automatisch von einer Wiederholungsgefahr aus.