Unzumutbare Anforderungen an Wiederaufnahme wegen Befangenheit
Gerichte dürfen an die Wiederaufnahme nach festgestelltem Verstoß gegen die EMRK keine unzumutbaren Anforderungen stellen, so das BVerfG.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat der Verfassungsbeschwerde einer wegen gemeinschaftlichen Mordes an ihrem Mann rechtskräftig verurteilten Frau teilweise stattgegeben. Sie hatte vergeblich versucht, eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen sie wegen möglicher Befangenheit des Vorsitzenden zu erwirken. Dieser hatte bereits an der Verurteilung des mutmaßlichen Mittäters, des damaligen Lebensgefährten der Verurteilten, als Berichterstatter mitgewirkt. Doch die Fachgerichte hatten die Wiederaufnahme selbst dann noch verweigert, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt hatte. Das BVerfG sah hierdurch das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verletzt.
EGMR sieht Konventionsverstoß – das reicht dem OLG aber nicht
Der EGMR hatte sein Urteil folgendermaßen begründet: Zwar gebe es keine Anzeichen dafür, dass der Richter tatsächlich persönlich voreingenommen gewesen wäre. Dennoch seien die Zweifel aufgrund objektiver Kriterien gerechtfertigt. Hierzu bezog sich der EGMR auf das frühere Urteil gegen den Lebensgefährten der Verurteilten: Darin seien Feststellungen zu ihr als Tatsachen und nicht etwa als reine Vermutungen dargestellt worden. Dies gehe über das hinaus, was notwendig gewesen sei, um seine Tat rechtlich einzustufen (Urt. v. 16.02. 2021, Nr. 1128/17).
Dennoch verweigerten sowohl Landgericht als auch Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt a.M. eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens gem. § 359 Nr. 6 Strafprozessordnung (StPO). Nach dem Gesetzeswortlaut müsse das Urteil schließlich auf dem Konventionsverstoß „beruhen“. Die Verurteilte müsse daher Anhaltspunkte dafür darlegen, dass sich der Konventionsverstoß auf die Verurteilung ausgewirkt haben könnte und das Urteil sonst möglicherweise anders ausgefallen wäre. Außerdem habe der EGMR festgestellt, dass von der persönlichen Unparteilichkeit des Richters auszugehen sei.
BVerfG: OLG stellt „unerfüllbare und unzumutbare“ Anforderungen
Das sah nun das BVerfG völlig anders: Diese Anforderungen des OLG seien „unerfüllbar und unzumutbar“. Damit erschwere es den Zugang zu einer erneuten Hauptverhandlung in einer Weise, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen sei, so die deutlichen Worte der Karlsruher Richterinnen und Richter.
Zum einen sei es der Verurteilten überhaupt nicht möglich, darzulegen, dass sich im Urteil gegen sie Anhaltspunkte für eine Befangenheit finden. Zwar fehlten laut Feststellungen des EGMR in besagtem Urteil Gesichtspunkte, die gegen die Unparteilichkeit des Richters sprechen. Gerade dann aber sei es ja unmöglich, aus eben diesem Urteil Gründe zu finden, die gleichzeitig für seine Parteinahme sprechen sollen. Denn beides schließe sich gegenseitig aus. Stattdessen könnten sich Zweifel an der Parteilichkeit auch aus der Prüfung des früheren Urteils ergeben. Außerdem verkenne das OLG, dass die Gründe für die Zweifel an der Parteilichkeit nicht darin lägen, dass der Richter tatsächlich voreingenommen gewesen sei, sondern vuelmehr darin, dass daran bei objektiver Betrachtung aus Sicht der Verurteilten gerechtfertigte Zweifel bestanden hätten. Nicht notwendig sei es hingegen, dass eine etwaige Voreingenommenheit sich tatsächlich in der Entscheidung ausgewirkt hätte.
Auch in anderer Hinsicht seien die Anforderungen des OLG sachlich nicht gerechtfertigt. Nach dessen Auslegung sei eine Wiederaufnahme per se ausgeschlossen, wenn sich die Zweifel allein auf Anhaltspunkte im früheren Urteil stützten. Das gesetzliche Erfordernis, dass das Urteil auf der EMRK-Verletzung „beruht“, dürfe aber nicht dazu führen, dass bestimmte, in der Rechtsprechung des EGMR anerkannte, Konstellationen einer Verletzung der EMRK von vorneherein ausgeschlossen seien.
Andernfalls bestünde zudem ein Wertungswiderspruch zur Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG). Schon im Rahmen der Revision könnten gem. § 338 Nr. 3 StPO bei fehlerhafter Besetzung des Gerichts Strafurteile aufgehoben werden. Dann könne eine gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßende Besetzung des Gerichts nicht weniger schwer wiegen.
Die Sache wird an das OLG zurückverwiesen, das nun erneut über die Wiederaufnahme des Strafverfahrens entscheiden muss.