Koalitionsvertrag

Koalitionsvertrag - Das plant die Ampel für Deutschlands Rechtspolitik

Bessere Gesetzgebung, straffere Planungsvorhaben, mehr Dokumentation im Strafrecht und mehr kollektiver Rechtsschutz: SPD, Grüne und FDP haben für die kommende Legislaturperiode einiges auf der Agenda. Auch Unternehmen und Familien erwartet Neues, gesellschaftspolitisch wird ausgemistet.

25.11.2021News

Unter der Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“ haben die zukünftigen Koalitionäre von SPD, Grünen und FDP ihren Koalitionsvertrag vorgelegt. Auf 177 Seiten formulieren die drei Parteien ihre Ziele für die kommende Legislaturperiode.

Die Ampelparteien wollen das Gesetzgebungsverfahren modernisieren und Planungsvorhaben straffen. Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter, der kollektive Rechtsschutz soll gestärkt, im Strafrecht ein Fokus auf Organisierte Kriminalität gelegt werden. Herausforderungen der Digitalisierung ziehen sich durch das gesamte Papier, gesellschaftspolitisch will die Koalition ausmisten und auch für Unternehmen hat die Koalition einiges in petto.

Die Anwaltschaft findet in dem Papier nur an einer Stelle direkt Erwähnung: Die Ampelparteien wollen das Verbot von Erfolgshonoraren modifizieren und das Fremdbesitzverbot prüfen. Sie setzen das in den Kontext einer stärkeren Regulierung von Legal-Tech-Unternehmen.

Justiz: Mehr Online-Verhandlung, mehr Dokumentation, mehr kollektiver Rechtsschutz

In Sachen Justiz trifft das Papier klare Vorgaben, birgt aber wenig Überraschungen. Den Pakt für den Rechtsstaat will die künftige Regierung „mit den Ländern verstetigen“ und um einen Digitalpakt für die Justiz erweitern.

Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen sollen künftig audio-visuell dokumentiert werden. Außerdem soll es mehr spezialisierte Spruchkörper geben, englischsprachige Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten sollen möglich sein. Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein.

Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich

durchgesetzt werden können. Den kollektiven Rechtsschutz wollen die Ampel-Parteien ausbauen, bestehende Instrumente wie z. B. nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz modernisieren. Ein Bedarf für weitere wird geprüft.  Die Anforderungen an klageberechtige Verbände sollen dabei aber nicht gelockert werden. Die EU-Verbandsklagerichtlinie will die künftige Regierung  „anwenderfreundlich und in Fortentwicklung der Musterfeststellungsklage“ umsetzen, auch kleine Unternehmen sollen diese Klagemöglichkeiten haben.

Neue Regeln für Bundesrichterbesetzungen, familiengerichtliche Verfahren und Strafprozesse

Am Bundesverwaltungsgericht wollen die Koalitionäre die Voraussetzungen für zusätzliche Senate im Planungsrecht schaffen. Die Wahl und die Beförderungsentscheidungen für Richterinnen und Richter an den obersten Bundesgerichten wollen die Ampel-Parteien reformieren, die Kriterien sollen Qualitätssicherung, Transparenz und Vielfalt sein.

In familiengerichtlichen Verfahren sollen der Kinderschutz und das Prinzip der Mündlichkeit der Verhandlungen gestärkt werden. Die Hürden für die Nichtzulassungsbeschwerde wollen die Parteien der künftigen Regierung senken, Familienrichter bekommen einen gesetzlich verankerten Anspruch auf Fortbildung. Häusliche Gewalt ist in Umgangsverfahren künftig zwingend zu berücksichtigen.

Strafprozesse sollen effektiver, schneller, moderner und praxistauglicher werden, ohne die Rechte der Beschuldigten und deren Verteidigung zu beschneiden. Vernehmungen und Hauptverhandlung sollen in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Verständigungen einschließlich möglicher Gespräche über die Verfahrensgestaltung sollen ebenso geregelt werden wie das grundsätzliche Verbot der Tatprovokation. Die Verteidigung der Beschuldigten soll „mit Beginn der ersten Vernehmung“ sichergestellt werden.

Das externe ministerielle Einzelfallweisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften will die Ampelkoalition anpassen, für den Vollzug eines Europäischen Haftbefehls bedarf es einer richterlichen Entscheidung.

Bessere Gesetzgebung und ein neues Wahlrecht

Die Qualität der Gesetzgebung soll laut dem Koalitionsvertrag verbessert, Einflussnahmen im Gesetzgebungsprozess sollen transparenter gemacht werden. Die Praxis, betroffene Kreise aus der Gesellschaft und Vertreterinnen und Vertreter des Parlaments sollen besser eingebunden werden.

Es soll einen Digital- und einen Praxischeck für neue Gesetze geben, ein Zentrum für Legistik und ein digitales Gesetzgebungsportal, über das einsehbar ist, in welcher Phase sich Vorhaben befinden, testweise mit Kommentarfunktion. Gesetzentwürfen der Bundesregierung soll künftig eine Synopse beigefügt werden, die die aktuelle Rechtslage den geplanten Änderungen gegenüberstellt.

Bei Gesetzentwürfen der Bundesregierung und aus dem Bundestag sollen Einflüsse Dritter im Rahmen der Vorbereitung von Gesetzesvorhaben und bei der Erstellung von
Gesetzentwürfen umfassend offengelegt werden, allerdings begrenzt durch die Freiheit des Mandats.

Das Wahlrecht soll überarbeitet werden, um das Anwachsen des Bundestags nachhaltig zu verhindern. Die Ampel-Koalitionäre wollen den Bundestag vielmehr „effektiv in Richtung der gesetzlichen Regelgröße“ verkleinern. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für das erklärte Ziel einer paritätischen Repräsentanz von Frauen und Männern im Parlament sollen geprüft werden, ebenso Vorschläge zur Bündelung von Wahlterminen, zur Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre sowie zur Begrenzung der Amtszeit des Bundeskanzlers / der Bundeskanzlerin. Das aktive Wahlalter wird die Koalition für die Wahlen zum Europäischen Parlament auf 16 Jahre senken. Die notwendige Grundgesetzänderung, um auch an den Wahlen zum Deutschen Bundestag schon 16-Jährige zu beteiligen, will sie anstreben.  

Strafrecht auf dem Prüfstand, Organisierte Kriminalität und Rechtsextremismus im Fokus

Das Strafrecht – „immer nur Ultima Ratio“ – soll systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche überprüft werden mit Fokus auf historisch überholte Straftatbestände, die Modernisierung des Strafrechts und die schnelle Entlastung der Justiz. Das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen, Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen will die künftige Regierung überarbeiten mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung.

Die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK, einschließlich der sogenannten Clankriminalität) soll zu einem Schwerpunkt der Sicherheitsbehörden werden: mehr Strukturermittlungen, die Nutzung strafrechtlicher Möglichkeiten u. a. bei der Vermögensabschöpfung, die Strukturen bei der Geldwäschebekämpfung und ihrer Ressourcen sollen besser, das Themas soll in der Ausbildung in den Sicherheitsbehörden stärker verankert werden.

Den Kampf gegen Rechtsextremismus wollen SPD, Grüne und FDP ebenfalls intensivieren, Datenbanken in der EU kompatibel ausgestalten, die Gefährder-Definitionen vereinheitlichen, deren Früherkennung forcieren und für eine koordinierte Überwachung sorgen. Die Erfassung der politisch motivierten Kriminalität soll besser werden,  z. B. im Hinblick auf frauen- und queerfeindliche Hasskriminalität.  Auch innerhalb der Bundesregierung soll die weitere Aufarbeitung des NSU-Komplexes „energisch vorangetrieben“ werden, in Zusammenarbeit mit betroffenen Bundesländern soll ein Archiv zu Rechtsterrorismus auf den Weg gebracht werden.

Planungsrecht: Weniger gerichtliche Auseinandersetzungen

Größere Änderungen planen die drei Parteien offenbar im Bereich Planungsrecht, konkret einer „auf Rechtssicherheit und gegenseitigem Vertrauen fußende(n) Planungskultur in Deutschland“. Alle staatlichen Stellen sollen, so der Koalitionsvertrag, Verwaltungsverfahren so vereinfachen und verbessern, dass gerichtliche Auseinandersetzungen möglichst vermieden werden. Mehr Möglichkeiten im Rahmen des Verfassungs- und Unionsrechts sollen „ausgenutzt“, eine „wirksame und unionsrechtlich zulässige Form der materiellen Präklusion“ eingeführt werden.

Eine frühestmögliche und intensive Öffentlichkeitsbeteiligung, an der anerkannte Naturschutzverbände und die betroffene Öffentlichkeit mitwirken müssen, sollen Verwaltungsverfahren beschleunigen. Es soll frühe erste Termine geben und ein effizienteres einstweiliges Rechtsschutzverfahren soll Fehlerheilungen berücksichtigen und auf die Reversibilität von Maßnahmen abstellen. Die personellen und technischen Kapazitäten bei Behörden und Gerichten sollen erhöht werden.

Digitalisierung: Recht auf Verschlüsselung, Umgang mit Plattformen, Hate Speech

Nicht nur die Verwaltung soll digitaler werden. Entwicklungsaufträge sollen künftig regelmäßig als Open Source beauftragt, die Software grundsätzlich öffentlich gemacht werden. Es wird ein Recht auf Verschlüsselung geben, auch der Staat muss verpflichtend die Möglichkeit echter verschlüsselter Kommunikation anbieten. Für Schäden, die fahrlässig durch IT-Sicherheitslücken in ihren Produkten verursacht werden, sollen künftig die Hersteller haften. Die Ampel-Koalitionäre verpflichten zudem alle staatlichen Stellen, ihnen bekannte Sicherheitslücken beim BSI zu melden und sich regelmäßig einer externen Überprüfung ihrer IT-Systeme zu unterziehen.

Beim auf EU-Ebene anstehenden Digital Services Act wollen die Ampel-Parteien sich für die Wahrung der Kommunikationsfreiheiten, für starke Nutzerrechte und klare Meldeverfahren einsetzen. Die Daten sehr großer Plattformen wollen sie für Forschungszwecke nutzen und deren algorithmischen Systeme prüfen.  Im Umgang mit Plattformen soll das Bundeskartellamt mehr Rechte erhalten.

Es soll klare Regelungen gegen Desinformationen geben, ein Gesetz gegen digitale Gewalt soll Schutzlücken für Betroffene von Hate Speech schließen. Anzeigen sollen digital möglich werden, Richter Accounts sperren können.  Der Rechtsrahmen für Plattformen (u. a. Telemediengesetz, TMG und Netzwerkdurchsetzungsgesetz, NetzDG) soll grundlegend überarbeitet werden. Allgemeine Überwachungspflichten, Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation und eine Identifizierungspflicht soll es nicht geben, die Anonymität im Netz soll erhalten bleiben.

Unternehmen: Lieferketten, Whistleblower, Arbeitsrecht und Legal Tech

Für Unternehmen birgt der Koalitionsvertrag wenig Überraschungen. Das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten will die künftige Regierung unverändert umsetzen und gegebenenfalls verbessern.

Die Unternehmenssanktionen stehen erwartungsgemäß weiterhin auf der Tagesordnung. Die Koalitionäre wollen die Vorschriften einschließlich der Sanktionshöhe überarbeiten, um die Rechtssicherheit von Unternehmen im Hinblick auf Compliance-Pflichten zu verbessern und einen präzisen Rechtsrahmen für interne Untersuchungen zu schaffen.

Die EU-Whistleblower-Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 17. Dezember abläuft, wollen die drei Parteien umsetzen und den Schutz für Hinweisgeber auch auf erhebliche Verstöße gegen Vorschriften oder sonstiges erhebliches Fehlverhalten ausweiten, deren Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Das war bislang an den Unionsparteien gescheitert.

Flexiblere Arbeitszeitmodelle sollen möglich werden, es soll Experimentierräume für Tarifvertragspartner geben. Am Grundsatz des Acht-Stunden-Tags hält der Koalitionsvertrag aber fest, flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) sollen ebenfalls weiterhin möglich sein. Homeoffice soll als „eine Möglichkeit der Mobilen Arbeit“ rechtlich von der Telearbeit und dem Geltungsbereich der Arbeitsstättenverordnung abgegrenzt werden. Bei Eignung des Jobs erhalten Beschäftigte einen Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Homeoffice, dem Arbeitgeber nur dann widersprechen können, wenn betriebliche Belange entgegenstehen. Tarifverträge sollen davon weiterhin abweichen können.

Online-Betriebsratswahlen sollen in einem Pilotprojekt erprobt werden, Gewerkschaften sollen ein „zeitgemäßes Recht“ auf digitalen Zugang in die Betriebe bekommen, das ihren analogen Rechten entspricht. Online-Hauptversammlungen sollen dauerhaft möglich werden.

Die Gründung von Gesellschaften soll leichter, das Gesellschaftsrecht digitaler werden. Auch Gründungen mit Sacheinlage sollen künftig per Videokommunikation beurkundet werden. Für Legal-Tech-Unternehmen soll es klare Qualitäts- und Transparenzanforderungen geben.

Gesellschaft: Cannabis bald legal, § 219a StGB bald weg, neue Regeln für Familien

Die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene will die künftige Koalition zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften erlauben, nach vier Jahren soll das Gesetz evaluiert werden.

Schwangerschaftsabbrüche sollen Teil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung, die flächendeckende Versorgung mit Beratungseinrichtungen sichergestellt, Schwangerschaftskonfliktberatung auch künftig online möglich sein. Ärzte sollen öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen, § 219a StGB wird gestrichen.

Die Neuregelung der Sterbehilfe, die erforderlich geworden war, nach das BVerfG das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe nach § 217 StGB für verfassungswidrig erklärt hatte, sollen „zeitnahe fraktionsübergreifende Anträge“ einer Entscheidung zuführen.

Kinderrechte sollen, in einem neuen Anlauf, im Grundgesetz verankern werden. Eine Kindergrundsicherung soll eingeführt, das Elterngeld vereinfacht und digitalisiert werden. Mehrere Gesetzesänderungen sollen die Vereinbarkeit von Job und Familie für Väter und Mütter verbessern.  Das Familienrecht soll moderner werden. Das kleine Sorgerecht soll ausgebaut, ein „Institut der Verantwortungsgemeinschaft“ eingeführt werden.

Die Ehe soll nicht länger ausschlaggebende Kriterium bei der Adoption eines Kindes sein. Zwei miteinander verheiratete Frauen, in deren Ehe ein Kind geboren wird, sollen automatisch beide rechtliche Mütter werden. Die partnerschaftliche Betreuung von Kindern auch nach der Trennung soll gefördert, die  umgangs- und betreuungsbedingten Mehrbelastungen im Sozial- und Steuerrecht sollen besser berücksichtigt werden. Wenn die Eltern zusammenleben, können unverheiratete Väter künftig durch einseitige Erklärung das gemeinsame Sorgerecht bekommen. Widerspricht die Mutter, muss das Familiengericht über die gemeinsame Sorge entscheiden.

Verantwortlich für das Bundesministerium der Justiz, aus dem der Verbraucherschutz künftig wieder ausgegliedert werden wird, wird die FDP, die Freien Demokraten haben den promovierten Juristen Marco Buschmann auf der Liste. Der Verbraucherschutz soll künftig im Ministerium für Umwelt angesiedelt werden, das von den Grünen geführt werden wird.