Kein Beseitigungsanspruch

Darum darf die „Wittenberger Sau“ bleiben

Das Relief an der Wittenberger Stadtkirche verunglimpfte Juden, so der BGH. Doch die Gemeinde habe aus dem Schandmal ein Mahnmal gemacht.

17.06.2022Rechtsprechung

Mit seiner Entscheidung bestätigte der u.a. für das Persönlichkeitsrecht zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die Entscheidungen der Vorinstanzen, die die Klage auf Entfernung der „Wittenberger Sau“ wie auch die Berufung des klagenden Juden abgewiesen hatten. Es ist das vorläufige Ende eines jahrelangen Rechtsstreits, der auch die Feuilletons der großen Zeitungen beschäftigte. Und der BGH trifft eine Aussage, der man auch Bedeutung über den Einzelfall in Wittenberg hinaus beimessen darf.

Keine Zweifel hat der Senat allerdings an der Aktivlegitimation des klagenden Mitglieds einer jüdischen Gemeinde in Deutschland. Der Mann sei berechtigt, den Aussagegehalt des Reliefs gerichtlich zu beanstanden, so der Senat. Isoliert betrachtet verhöhne und verunglimpfe die „Wittenberger Sau“ das Judentum als Ganzes und greife damit auch den Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden an. Diese Personengruppe ist laut dem BGH „durch den nationalsozialistischen Völkermord zu einer Einheit verbunden, die sie aus der Allgemeinheit hervortreten lässt“.

Die beklagte Kirchengemeinde ist die Eigentümerin der Stadtkirche in der selbsternannten Lutherstadt Wittenberg, an deren Außenfassade sich das Sandsteinrelief etwa seit dem Jahr 1290 befindet. Sie müsse sich das Relief auch zurechnen lassen, befanden die Karlsruher Richter. Schließlich habe sie jedenfalls im Jahr 1983 bei Sanierungsarbeiten entschieden, das Relief an der Stadtkirche an seinem Ort zu belassen und zu sanieren.

Ein Relief, eine Bodenplatte und ein Schrägaufsteller

An der Botschaft des Reliefs gab es dabei keine Zweifel. Es zeigt eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen. Sie tragen Spitzhüte, was sie als Juden identifiziert. Ein weiterer, ebenfalls durch seinen Hut als Jude erkennbarer Mensch hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Im Jahr 1570 wurde über der Sau die Inschrift "Rabini Schem Ha Mphoras" angebracht, diese bezieht sich auf zwei antisemitische, im Jahr 1543 von Martin Luther veröffentlichte Schriften. In der jüdischen Religion gilt das Schwein als unrein, in  der christlichen Kunst des Mittelalters verkörperte es den Teufel.

Fünf Jahre nach Beginn der Sanierungsarbeiten, am 11. November 1988, wurde unter dem Relief eine in Bronzeplatte mit einer Inschrift eingeweiht, entworfen von einem Bildhauer, getextet von einem Schriftsteller. Der Text der Inschrift lautet: "Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen". In Hebräischer Schrift ist darüber hinaus der Beginn von Psalm 130 wiedergegeben, der – übersetzt - lautet: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir". 

Zusätzlich zu diesem etwas kryptischen Text befindet sich in unmittelbarer Nähe der Sau“  ein Schrägaufsteller mit einem Hinweis auf das „Hohn- und Spottbild auf die jüdische Religion“ und auf die Bodenplatte als Mahnmal“. Der Aufsteller enthält außerdem Informationen über die antisemitischen Schriften Luthers, auf die das Relief Bezug nimmt, die Verfolgung der Juden in Sachsen und die Judenprogrome im nationalsozialistischen Deutschland.

Dem klagenden Juden genügte das nicht. Er forderte die Gemeinde auf, das Relief zu entfernen und ging mit diesem Antrag schließlich bis zum BGH.

Das Schandmal in ein Mahnmal für Gedenken und Erinnerung umgewandelt

Nach Ansicht der Karlsruher Richterinnen und Richter fehlt es aber an einer dafür erforderlichen gegenwärtigen Rechtsverletzung.

Zwar habe das Relief zur Zeit seiner Entstehung und auch noch im 16. Jahrhundert, als es durch die Inschrift "Rabini Schem Ha Mphoras" ergänzt wurde, Juden verächtlich gemacht, verhöhnt und ausgegrenzt, stellt der Senat deutlich klar. Seitdem habe es das jüdische Volk und seine Religion massiv diffamiert, Judenfeindlichkeit und Hass zum Ausdruck gebracht. Es habe von Anfang an und immer nur der Diffamierung und Verunglimpfung von Juden gedient, schreibt der BGH in seiner Pressemeldung. Es sei kaum eine bildliche Darstellung denkbar, die noch stärker im Widerspruch zur Rechtsordnung steht.

Das änderte sich aber nach Meinung des BGH, als die Gemeinde im Jahr 1988 die Bodenplatte verlegte und den Aufsteller aufstellte. Damit habe sie „aus der maßgeblichen Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Betrachters“ das Schandmal in ein Mahnmal umgewandelt, das dem Gedenken und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoah dienen sollte. Von der diffamierenden und judenfeindlichen Aussage des Reliefs habe sie sich damit distanziert, so der VI. Senat.

Gemeinde darf entscheiden, wie sie die Rechtsverletzung beseitigt

Mit dieser der Umwandlung des "Schandmals" in ein Mahnmal habe die Gemeinde eine von mehreren Möglichkeiten gewählt, um den rechtsverletzenden Aussagegehalt des Sandsteinreliefs zu beseitigen. Entgegen der Auffassung des klagenden Mannes könne die Rechtsverletzung, die von dem Relief ausgeht, keineswegs nur dadurch beseitigt werden, dass es entfernt wird, stellt der BGH klar.

Selbst wenn man – anders als der Senat – annähme, dass die Gemeinde mit der Bodenplatte und dem Bodenaufsteller noch nicht genug getan hätte, um sich vom zutiefst verunglimpfenden Charakter des Reliefs zu distanzieren, könnte der Kläger nach Ansicht des BGH nicht verlangen, dass die „Wittenberger Sau“ entfernt wird. Mit dieser Argumentation geht der BGH noch ein Stück über den Fall der Wittenberger Sau hinaus: „Bestehen, wie im Streitfall, mehrere Möglichkeiten, eine rechtswidrige Beeinträchtigung für die Zukunft abzustellen, muss es dem Schuldner überlassen bleiben, wie er den Störungszustand beseitigt“, heißt es in der Pressemeldung aus Karlsruhe.