Laudatio von Dr. Gisela Vetter-Liebenow M.A., Stellvertretende Direktorin des Wilhelm-Busch-Museums Hannover – Deutsches Museum für Karikatur und kritische Grafik
Verleihung des Karikaturpreises der deutschen Anwaltschaft an Tomi Ungerer am 12. Oktober 2000
Exzellenz, sehr geehrter Herr Botschafter, Frau Ministerin, Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Herr Generalbundesanwalt,
verehrter, lieber Tomi Ungerer, meine Damen und Herren,
die Gerechtigkeit wird in der Kunst durch eine Frau personifiziert: Justitia, die als eine der Kardinaltugenden schon bei den Römern die Einhaltung und Bewahrung des Rechts symbolisierte. Ihre Attribute sind Schwert und Waage, ihre Augen sind verbunden. In der Karikatur wird an ihr gern demonstriert, wie es sich mit der Gerechtigkeit, im Allgemeinen oder im Besonderen, wirklich verhält – zumindest nach Ansicht des jeweiligen Karikaturisten. Thomas Theodor Heine beispielsweise zeichnete 1903 im Simplicissimus eine Doppel-Justitia: auf der einen Seite eine pausbäckige, gutmütige Matrone mit Augenbinde und einer Waage, die etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, sowie einem Schwert, das niemand mehr verletzen wird: es ist verbogen und stumpf und zur Sicherheit ist auch die Spitze noch mit einem Tuch umwickelt. Sie ist die Justitia der „Bankiers“ und „Fähnriche“, die ihr ungestraft auf die Füße treten und ihr eine lange Nase zeigen dürfen. Weit weniger duldsam ist hingegen die Justitia der „Arbeiter“ und „Gemeinen“: furchterregend mit ihrem Medusenhaupt, gebärdet sie sich wild wie eine Furie, trampelt auf diesen „Gemeinen“ herum – die sie durch ein Stabfernglas ins Visier genommen hat – und spießt einen armen Polizisten gar mit ihrem Schwert auf. Gerechtigkeit im wilhelminischen Kaiserreich – aus der Sicht von Thomas Theodor Heine.
Knapp hundert Jahre später zeichnet Tomi Ungerer seine Justitita: ein pralles Weibsbild mit ausgeprägten Rundungen und üppigem Busen schäkert mit dem Sensenmann – oder doch eher er mit ihr? Beide lachen - ausgelassen, fast hemmungslos und erinnern so an das barocke Weltbild im Spannungsfeld von Lebenslust und Allgegenwärtigkeit des Todes. Eine ironische, provozierende Idee – die Gerechtigkeit wiegt sich selbst: Fuß und Brust liegen jeweils in einer Waagschale und haben offenbar das gleiche Gewicht: die Waage ist ausgewogen. – Aber es ist der Tod, der letztlich die Waage in der Hand hält. Wie auch immer, am Ende ist es doch nur ER, der für die letzte Gerechtigkeit sorgt: IHM hat sich noch keiner entzogen. Anders gesagt: Es gibt kein Leben ohne Todesstrafe! – so hat es Tomi Ungerer unter dieser Zeichnung formuliert.
Justitia und Sensenmann: Dieses Blatt hat Tomi Ungerer für die Bundesrechtsanwaltskammer anläßlich der heutigen Preisverleihung gezeichnet. Es soll – so der Künstler vorhin in der Pressekonferenz – den Rechtsanwältinnen die Möglichkeit geben zu zeigen, daß sie Humor haben, daß sie über ihren Beruf lachen können – indem sie es zum Beispiel in ihren Kanzleien aufhängen. Ein Blatt zugleich, auf das all die Adjektive passen, die im Zusammenhang mit Tomi Ungerer in so vielen Reden und Würdigungen, Vorworten und Kritiken schon gefallen sind. Das Blatt ist böse und anarchisch, tabulos und provokativ, frivol und subversiv, absurd und komisch, witzig, fröhlich-frech ... und so weiter und so fort.
Tomi Ungerers Werk ähnelt einem Vulkanausbruch: explosiv bricht es aus ihm heraus, ergießt sich lawinenartig – brodelt und kocht, erhitzt die Gemüter, scheidet die Geister und entflammt – sicher nicht nur in mir – heftigste Bewunderung. Eine Laudatio auf einen solchen Künstler zu halten, meine Damen und Herren, ist eine schwierige Aufgabe – was allerdings dadurch aufgewogen wird, daß es mehr noch eine ehrenvolle und eine schöne Aufgabe ist.
Tomi Ungerers Werk hat unendlich viele Facetten, seine Schaffenskraft ist seit mehr als vierzig Jahren enorm, und nicht zu vergessen ist sein unermüdliches humanitäres Engagement – besonders für Kinder, aber auch für die Aids-Hilfe, den Tierschutz, den deutsch-französischen Kulturaustausch, seine Heimat, das Elsaß – wie er es heute morgen gesagt hat: „Ich muß immer meine Barrikaden haben“, oder: „Manchmal braucht man eine Faust, um ein Lächeln zu kriegen.“ Seine vielen Projekte und Bücher, seine Ehrungen und Auszeichnungen – sie können in dieser Würdigung nur ansatzweise zur Sprache kommen.
1956 hatte sich der 25jährige auf den Weg nach New York gemacht und dort binnen eines Jahres den künstlerischen Durchbruch geschafft – mit seinem ersten Kinderbuch The Mellops go Flying, das die Geschichte einer Familie von sechs Schweinen erzählt. Gleichzeitig war es – so Tomi Ungerer – „un départ météorique aux activités trés diversifiées“ („ein meteorhafter Aufbruch zu unterschiedlichsten Aktivitäten“). Die Werbebranche entdeckt die Talente des Tomi Ungerer, er arbeitet für das Fernsehen, zeichnet für Zeitschriften wie Esquire, Life, Holiday, Harper’s Magazin oder The New York Times.
In der Vielfalt dieser Aufgabenstellungen beweist sich die enorme Kreativität des Tomi Ungerer. Er entwirft Werbekampagagnen und beherrscht – offenbar von null auf hundert – die Kunst des Plakatentwerfens. Seine Grafik ist einfach und klar, die Farbigkeit lebendig, die Idee überraschend, die Wirkung: umwerfend. Der Titel, den er 1965 einem Werbeplakat für die Wochenzeitung The Village Voice gegeben hat, und der in den Sprachgebrauch übergegangen ist, steht für den Plakatkünstler, vielleicht für den ganzen Ungerer: EXPECT THE UNEXPECTED – Erwarte das Unerwartete.
Er zeichnet Cartoons für Zeitschriften, die durch die Kunst des Weglassens bestechen, durch Federstriche, die nicht schön, sondern präzise sind, durch Pinselstriche, die akzentuieren, die pointieren wollen. Sie sind oft abgründig, makaber, sie sind komisch und sie sind mit Freude überraschend und unerwartet. Vor allem, wenn es um das Verhältnis von Mann und Frau geht. Das Quälen scheint hier oft unausweichlich, meist ist die Frau dabei dem Mann in ihrer grausamen Phantasie und in ihrer Willensstärke überlegen. Und selbst wenn beide von Amors Pfeil durchbohrt und dadurch aneinandergekettet sind – lebenslang –, ist es bei Ungerer letztlich doch ihr Triumph und sein Unglück. Eine durchaus eigenwillige, aber auch eigentümlich faszinierende Sicht der Dinge – oder besser – Verhältnisse. Zumal wenn man die mögliche Umkehrung des ganzen mitdenkt.
In vielen Zeichnungen von Tomi Ungerer – bis hin zu seinen Kinderbuchillustrationen – geht es darum, Unmögliches, Unerlaubtes, Unerwartetes zu denken – all das, was Erwachsene im Laufe ihres Lebens gelernt haben, zu kontrollieren, sich zu verbieten.
Ich habe einen kleinen Freund, er ist fünf Jahre alt und heißt Nicolas. Er ist ein auffallend guter Beobachter und ein gnadenloser zugleich; er sagt unverblümt, was er denkt, was ihn stört. Man spürt, wie er intensiv versucht, Ungewohntes, Neues und Fremdes zu ergründen – und das meist sehr viel unvoreingenommener als Erwachsene. Seine Freude und seine Ausgelassenheit wie auch sein Ärger oder seine Traurigkeit gehen tief und sind explosiv. Wenn er lacht, dann schüttelt sich der ganze Körper gleich mit. Tomi Ungerer hat sich von dieser Fähigkeit vieler Kindern etwas bewahrt – er akzeptiert keine eingefahrenen Konventionen und er nimmt sich die Freiheit, neugierig und lustvoll auszuloten, was andere nicht zu denken, geschweige denn aufs Papier zu bringen wagen. Tomi Ungerer – ein Eroberer der furchtlos Neuland betritt. Auch ganz wörtlich:
1971 verläßt Tomi Ungerer mit seiner Frau Yvonne Amerika und läßt sich im kanadischen Neuschottland nieder – das Buch Heute hier, morgen fort erzählt von diesem Eintauchen in ein völlig neues Leben – fern der Großstadt New York. 1976 zieht das Paar nach Südirland. Ungerers gesellschaftskritischer Blick wird dadurch nur noch mehr geschärft, seine 1979 erschienenen Bücher Babylon und Politrics beweisen dies.
1983 erhält Ungerer den Jacob Burckhardt-Preis der Johann Wolfgang Goethe-Stiftung in Basel und wird als „großer Zeichner – unerbittlicher Moralist – schöpferischer Freund der Kinder“ gewürdigt. 1990 wird ihm der Orden der Ehrenlegion in Paris verliehen und im gleichen Jahr wird in Straßburg das Tomi-Ungerer Dokumentationszentrum eröffnet, das inzwischen auch einen umfangreichen Bestand seines Werkes besitzt. Sein Museum in Straßburg soll im kommenden Jahr eröffnet werden. Ich freue mich schon jetzt auf die erneute Begegnung mit Ugerers Werken dort.
Buchpublikation reiht sich in all diesen Jahren an Buchpublikation. 1986 erscheint Schutzengel der Hölle – gezeichnete Reportagen seiner Aufenthalte in Hamburger Bordellen – ein Buch weit jenseits modischer Sado-Maso-Illustrationen, 1989 das Portfolio Liberté, Egalité, Fraternité zur Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution, 1993 Die Gedanken sind frei – ein Buch über seine Jugenderfahrungen im Elsaß während der deutschen Besatzungszeit. 1994 veröffentlicht er – fast zwanzig Jahre nach dem Großen Liederbuch, einer Sammlung alter deutscher Volkslieder – das Liederliche Liederbuch. Erst im vergangenen Jahr ist das wunderbare Kinderbuch Otto. Autobiographie eines Teddybären, erschienen, eine Geschichte, die mit einem kleinen jüdischen Jungen namens David beginnt. In der Zeit vom 14. Oktober 1999 war darüber zu lesen: „Ungerer hält mit Ottos Geschichte die Balance zwischen Katastrophe und Idyll, zeigt sich einmal mehr als Illustrator, der souverän die pièces noires und pièces roses zusammenfügen kann. Horst Janssen notierte in seinen Tagebüchern: „Geschickte Zeichner gibt’s viele. Wahre Artisten des Zeichenstiftes gibt es Unmengen. Zeichner sind wenige.“ Ungerer ist einer dieser Wenigen.“
Es gibt zwei Karikaturen von Tomi Ungerer, die es mir auf unterschiedliche Weise ganz besonders angetan haben. Ich habe das Glück, mir diese beiden Zeichnungen immer wieder anschauen zu können – denn sie befinden sich im Besitz des Wilhelm-Busch-Museums und sind im Rahmen seiner Schenkung von über 200 (237) Arbeiten 1981/82 in das Museum gekommen. Die erste Arbeit stammt aus dem Jahr 1964. Ich mag diese Zeichnung – weil sie so komisch und böse, weil sie mitten aus dem Leben gegriffen – und weil sie wunderbar gezeichnet ist – wenige Striche nur, aber was für Striche! Das Thema: Szenen einer Ehe! Man ist eingeladen – vielleicht auf eine der Parties oder zu einer der vielen Galas, die das gesellschaftliche Leben so strapaziös gestalten. Auf jeden Fall ist Abendgarderobe angesagt. Sie ist begeistert. Der Busen wogt im tief dekolletierten, langen Kleid, am Hals und am Ohr glitzern die Juwelen. Hohe Pumps – so hat sie entschieden – müssen sein und ein paar Federn im frisierten Haar schaden auch nicht. Solchermaßen „gestiefelt und gespornt“ steuert sie zielstrebig ihrer Einladung zu. Ihr Gesicht spricht Bände: der leicht geöffnete Mund ist zu einem erwartungsvollen breiten Grinsen verzogen, die Augen sind weit aufgerissen – um nur ja alles zu sehen, zu bemerken – den neuesten Klatsch und Tratsch zu hören, selbst zu verbreiten, um gierig und lüstern einzutauchen in das Partygetümmel. Wo aber bleibt ER? Er ist nicht begeistert – aber er hat offenbar schon so lange aufgehört, sich zu wehren, daß der Titel lauten kann: „Manche Männer können sich nicht ohne Ehefrau bewegen“. Viel ist von ihm nicht zu sehen: der Kopf mit einem gequälten, leidenden Gesichtsausdruck –zum Gotterbarmen! – und die Füße, die in polierten Schuhen mit edlen weißen Gamaschen stecken. Der Rest hängt regelrecht gefangen in dem Kleid seiner Frau – sie hat ihn sich quasi auf den Rücken gebunden und schleift ihn hinter sich her – die Schleifspuren seiner Füße verkünden die wohl totale Selbstaufgabe. Eine wahrlich tragische, aber vor allem wunderbar komische Szene! Tomi Ungerer hat Ähnliches – sicher nicht nur einmal – beobachtet, als er sich in den Jahren 1956 bis 1970 oft exzessiv in das New Yorker Gesellschaftsleben stürzte. Drei Bücher versammeln viele der Zeichnungen, die aus all diesen Eindrücken, Beobachtungen und Erlebnissen entstanden sind: The Party (1966), Fornicon (1969) und America (1974).
1967 – drei Jahre nach dem eben beschriebenen Blatt – ist die Zeichnung They will remember US entstanden, wobei „us“ gleichzeitig als Abkürzung von „United States“ zu lesen ist. Was ist zu sehen? Im Hintergrund die Reste eines in Trümmern liegenden Dorfes, der Weg dorthin gepflastert mit Leichen. Mitten im Bild hockt eine zum Skelett abgemagerte Frau, die dem Betrachter den Rücken zuwendet. Es ist eine Mutter, denn in ihren Armen liegt ein Kind, von dem man nur den Kopf sieht. Elend und Not, zahllose Opfer und verwüstetes Land stehen für die Vietnamesen am Ende eines grausamen Krieges. Dies ist die schreckliche Hinterlassenschaft der Amerikaner – neben ihrem Zivilisationsmüll: leeren Konservendosen, Colaflaschen und Pornoheften. Tomi Ungerer hat während des Vietnam-Krieges die amerikanische Politik wiederholt attackiert und die heftige öffentliche Diskussion begleitet. 1967 wurde er von Studenten und Professoren der Columbia Universität gebeten, eine Serie von Anti-Kriegs-Plakaten zu entwerfen. In diesem Zusammenhang entstand diese Skizze, die in der Tradition von Radierfolgen wie Les Misères et les Malheures de la Guerre (1633) von Jacques Callot oder den Desastres de la guerra (1808-1813) von Francisco de Goya steht. Ungerer provoziert, um ein Konzept durchzusetzen. Er traut sich Wahrheiten zu sagen, auch wenn der Gegner ein Riese ist — „Wallstreet ist eine Weltdikatatur“ so Ungerer; aber er sagt auch: „Je größer der Riese, desto schwächer die Füße.“
Viele Satiriker beklagen immer wieder die Aussichtslosigeit, mit ihren Zeichnungen aufrütteln, verändern, die Welt verbessern zu können. Aber Tomi Ungerer beweist bis heute, daß Resignation angesichts dieser scheinbaren Aussichtslosigkeit des Ankämpfens gegen einen universellen Wahnsinn nicht die Lösung sein kann. Im Gegenteil – es ist dieses ständige sich einmischen, sich engagieren, das Tomi Ungerer zu einem würdigen Träger des Karikaturpreises der deutschen Anwaltschaft macht. Diese Haltung verbindet ihn mit Ronald Searle, dem ersten Preisträger dieser Karikaturauszeichnung, obgleich die künstlerische Handschrift, der künstlerische Ausdruck beider ja sehr verschieden ist. Ronald Searle – gut zehn Jahre älter als Tomi Ungerer – hat die Grausamkeit des Krieges am eigenen Leib erfahren, hat als einfacher Soldat an den Kämpfen um Singapore teilgenommen und war Kriegsgefangener der Japaner im Dschungel von Siam, eingesetzt für den berüchtigten Bau der „Brücke am Kwai“. Seine während dieser Zeit entstandenen über dreihundert Zeichnungen sind eindringliche Dokumente menschlicher Grausamkeit und menschlichen Leidens – manches davon klingt noch heute in Searles politischen Karikaturen für die französische Tageszeitung Le Monde an.
Ich bin sicher, Ronald Searle würde unterschreiben, was Tomi Ungerer in seinem Buch Die Gedanken sind frei geschrieben hat: „Ich habe zumindest die unterschiedlichsten menschlichen Lebensbedingungen kennengelernt und bin auf meine Art Pazifist geworden. Es gibt kein anderes Mittel gegen Vorurteile, Haß und Ungerechtigkeit als die persönliche Bewußtseinsentwicklung, die uns unsere Pflichten diktiert.“
In diesem Sinne gratuliere ich Tomi Ungerer im Namen der gesamten Jury sehr herzlich zu dem Karikaturpreis der deutschen Anwaltschaft.