Laudatio von Dr. Gisela Vetter-Liebenow M.A., Stellvertretende Direktorin des Wilhelm-Busch-Museums Hannover – Deutsches Museum für Karikatur und kritische Grafik

Verleihung des Karikaturpreises der deutschen Anwaltschaft an Edward Sorel am 19. September 2002

Lieber Edward Sorel, sehr geehrter Herr Generalbundesanwalt, meine Damen und Herren!

Die Ausgabe des amerikanischen Magazins „The New Yorker“ vom 5. Oktober 1992 wurde mit besonderer Spannung erwartet. Welchen Künstler, welches Motiv würde Tina Brown, die neue Chefin, für das Titelblatt „ihres“ ersten Heftes wählen? Die Übernahme der Chefredaktion durch die aus England stammende, selbst schlagzeilenträchtige Journalistin, die in den Jahren zuvor „Vanity Fair“ nach oben gepuscht hatte, war heiß diskutiert worden. Wie würde sich ihr vor allem auf Stars und Sternchen zielender Sensations-Journalismus mit dem Stil eines Magazins vertragen, das sich als „sophisticated“ und elitär verstand? Doch der „New Yorker“, seit seiner Gründung 1925 eine nahezu unangetastete Institution, war finanziell angeschlagen, und es schien dringend geboten, neue Leserschichten hinzu zu gewinnen.

Tina Brown bewies mit ihrer Künstler-Wahl sicheres Gespür. Sie entschied sich für einen Mann, der bisher noch nie für den „New Yorker“ gearbeitet hatte, als politischer Karikaturist, Cartoonist und Kinderbuchillustrator jedoch schon längst einen klangvollen Namen hatte: Edward Sorel.

Wie sah sein Titelblatt-Entwurf aus? Ein in schwarzes Leder gekleideter Punk lässt sich in einer altmodischen, herrschaftlichen Kutsche durch den herbstlich gefärbten Central Park in New York kutschieren. Seine provozierende Lässigkeit steht dabei in deutlichem Kontrast zu der steifen Haltung des leicht irritiert wirkenden Kutschers. Für den vertrauten Leser des „New Yorker“ war diese Szene durchaus ungewöhnlich: ein Underdog auf dem Cover, das hatte es in der fast siebzigjährigen Geschichte des „New Yorker“ noch nicht gegeben. Dessen Welt war immer noch ein bisschen die jenes versnobten viktorianischen Dandies namens Eustace Tilley, der auf der ersten Ausgabe vom Februar 1925 und seither auf fast jeder Februarausgabe erschienen war. Randfiguren der Gesellschaft waren für die Titelblätter ebenso wenig ein Thema wie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Politik. Sorels Cover war also – wie es die Art Editorin des „New Yorker“, Françoise Mouly, in einem Beitrag für den Katalog zur Ausstellung im Wilhelm-Busch-Museum 2000 formuliert hat – „eine Warnung an die Upper-East-Side-Aristokratie, dass sie mit einer neuen Generation von kulturellen Machern zu rechnen hatte“.

Die Entscheidung für die Zeichnung von Edward Sorel als Titelblatt erwies sich als kluger Schachzug für das Eröffnungsspiel von Tina Brown. Mit seinen inzwischen rund drei Dutzend Titelblättern ist er zu einem Aushängeschild des „New Yorker“ geworden – und zusammen mit so unterschiedlichen Künstlern wie Art Spiegelman oder Jean Jacques Sempé prägend für den facettenreichen Gegenwartsstil dieses Magazins.

Edward Sorel wurde 1929 in New York geboren und wuchs in der Bronx auf. 1947 graduierte er an der High School of Music and Art, 1951 an der Cooper Union for the Advancement of Science and Art, einer der ältesten und angesehensten Institutionen in den USA. Zwei Jahre später gründete er zusammen mit zwei Studienfreunden die „Push Pin Studios“; die dort entworfenen Illustrationen für Magazine, Buchumschläge und Plattencover wurden mehrfach ausgezeichnet. 1958 entschied sich Edward Sorel jedoch für eine Karriere als freischaffender Künstler und entwickelte in den folgenden Jahren eine besondere Neigung für die politische Satire. Das war zweifellos auch familiär bedingt, wie in seinem 1997 erschienenen Buch „Unautorized Portraits“ nachzulesen ist. Bei den häufigen Treffen seiner jüdischen Großfamilie ging es zumeist recht lautstark um Politik – wobei die eine Hälfte der Familie sich als Anhänger des Kommunismus entpuppte, während die andere Hälfte stets vergeblich auf ein Familientreffen ohne politische Debatten pochte. Edward Sorels Reaktion auf solche heftigen politischen Diskussionen war der Rückzug in eine stille Ecke – zum Zeichnen. Statt aufs Debattieren, verlegte er sich lieber auf die Magie der Bilder.

Diese Magie, der man sich nicht entziehen kann, hat vielleicht am treffendsten Johann Wolfgang von Goethe in den „Zahmen Xenien“ beschrieben:

„Dummes Zeug kann man viel reden,
Kann es auch schreiben,
Wird weder Leib noch Seele tödten,
Es wird alles bei'm Alten bleiben.
Dummes aber, vor's Auge gestellt
Hat ein magisches Recht;
Weil es die Sinne gefesselt hält,
Bleibt der Geist ein Knecht.“

Seine ersten politischen Karikaturen veröffentlichte Edward Sorel zu Beginn der sechziger Jahre im „Monocle“, einem von Victor Navasky herausgegebenen politischen Humormagazin. Die Arbeit dort erwies sich für Sorel, der zugleich als Art Editor engagiert war, als eine gute Schule, zeichneten für dieses Magazin doch auch Künstler wie Tomi Ungerer oder David Levine.

Sorel hatte sein Handwerkszeug gelernt, als ausgelöst durch den Vietnam-Krieg Karikatur und Satire in den USA einen unerwarteten Aufschwung erlebten: „Plötzlich war Empörung nicht nur erlaubt – es war Mode geworden“, erinnert sich Sorel. 1965 startete er in dem linksgerichteten Monatsmagazin „Ramparts“ die Serie „Sorel's Bestiary“, in der er prominente Politiker in die ihnen am ähnlichsten sehenden Tiere verwandelte – Lyndon B. Johnson wurde auf diese Weise zum Krokodil.

1978 präsentierte Sorel einen ersten Sammelband seiner politischen Karikaturen unter dem selbstbewusst-ironischen Titel „Superpen“. Er konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine bemerkenswerte Karriere als politischer Karikaturist zurückblicken. Die Liste der Zeitschriften und Magazine, die seine Arbeiten veröffentlichten, reichte von Underground-Magazinen wie „The Realist“ oder „National Lampoon“ bis hin zu „Village Voice“, „The Nation“ und „Esquire“.

Die zeichnerische Qualität der in „Superpen“ veröffentlichten Karikaturen ist beeindruckend – die Kunst der Schraffur beherrscht Sorel von Anfang an meisterhaft, und vereinzelt kündigt sich auch schon in diesen frühen Zeichnungen die freiere Linienführung an, die für seine späten Arbeiten so charakteristisch ist. Seine Bildräume sind dicht ausgefüllt und bilden eine oft dramatische Kulisse für die bevorzugten Akteure in den politischen Karikaturen der sechziger und siebziger Jahren: amerikanische Politiker, an vorderster Front amerikanische Präsidenten.

Ein besonderer Glücksfall unter diesen Präsidenten war – aus Sicht des Karikaturisten wohlgemerkt – Richard Nixon. Nicht nur, dass die Jahre seiner Präsidentschaft genügend Zündstoff bis hin zur Watergate-Affäre boten, auch durch seine persönliche Amts-Attitüde lieferte er immer neue Vorlagen. Es wundert daher nicht, dass Sorel immer wieder Analogien zu Bildern barocker Herrscher aus dem alten Europa entdeckte und als Inspiration für so manche Karikatur nutzte. Im August 1973 beispielsweise präsentierte Sorel den Präsidenten im Krönungsornat Ludwigs XVI. Das war allerdings weder schmeichelhaft noch ermutigend – wurde Nixon doch so mit einem König in Verbindung gebracht, der nach Ausbruch der Französischen Revolution abdanken musste und 1793 dann auch noch seinen Kopf unter der Guillotine verlor. Schließlich zeichnete sich bei Nixon schon ab, dass ihm die „Watergate-Affäre“ – wenn auch nur im übertragenen Sinne – den Kopf kosten könnte.

Noch 1993 trauerte Sorel der markanten, unverwechselbaren Physiognomie von Richard Nixon nach, als er sich auf einen neuen Präsidenten, Bill Clinton, einstellen musste. Seine traurige Erkenntnis bei einer Porträtsitzung mit dem breit grinsenden Clinton veröffentlichte er in einer vor allem selbstironischen Zeichnung im Februar 1993 in „The Nation“: „Let's face it … he's no Nixon“ – „Machen wir uns nichts vor … er ist nicht Nixon“.

Zu den täglichen Herausforderungen für einen Karikaturisten gehört die Aufgabe, einen komplexen politischen Vorgang so in einem Bild zu verdichten, dass die Aussage schnell und unmissverständlich deutlich wird. Um dies zu erreichen, greifen die Künstler seit Jahrhunderten auf das bildliche Vorstellungs- und Begriffsvermögen ihrer Zeit zurück, auf einen kollektiven Bildervorrat, der allerdings nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Mensch zu Mensch recht unterschiedlich ist. Sorel löst dieses Problem nicht auf dem kleinsten gemeinsamen (Bildungs-)Nenner, sondern greift auf einen sehr reichen Schatz von Bildern und Vorbildern zurück, der die amerikanische und die europäische Kunstgeschichte, Literaturgeschichte und politische Geschichte umfasst.

In den achtziger Jahren dann löste sich Sorel von den Mühen und Frustrationen eines politischen Karikaturisten mit einer Serie, die er zusammen mit seiner Frau Nancy Caldwell Sorel für das Magazin „Atlantic Monthly“ entworfen hat. „First Encounters“ - erste Begegnungen berühmter Persönlichkeiten sind das Thema dieser Serie. Begleitet von Texten seiner Frau illustrierte er über 60 historische Momente, die unterhaltsam, überraschend und meist sehr menschlich sind. Da trifft Charlie Chaplin Jean Cocteau, Enrico Caruso Giacomo Puccini, Gertrude Stein Edith Sitwell, Joseph Haydn Lady Emma Hamilton, Jean-Paul Sartre Simone de Beauvoir oder Joseph Stalin Winston Churchill. 1994 erschienen die „Encounters“ gesammelt als Buch.

Eine der schönsten „First Encounters“ ist das Treffen zwischen Sigmund Freud und Gustav Mahler 1910 im holländischen Leyden. Mahler war zu dem berühmten Psychoanalytiker gereist, um mit ihm über seine Impotenz – aber eigentlich über seine Ehekrise mit Alma zu sprechen. Bei einem Spaziergang erklärt Mahler Freud seine Probleme und Sorel lässt uns dabei zuschauen. Freud schaut konzentriert und angespannt auf Mahler, und man spürt förmlich, wie er ihm in die Seele zu blicken versucht. Mahler hingegen ist bis in die Haarspitzen hinein verwirrt und ratlos, seine ganze Körperhaltung signalisiert Unsicherheit. Ein Detail verdient besondere Beachtung: beide rauchen Zigarre. Doch während Freuds Zigarre dick und steif ist, hängt Mahlers Zigarre schlaff herunter – Honi soit qui mal y pense! Dem Verleger war dies übrigens zu anzüglich – er schickte die Zeichnung zurück, und die Zigarre musste „aufgerichtet“ werden. In der Buchpublikation ist sie dann aber wieder schlaff – und genauso ist es auf dem Original geblieben, das heute im Deutschen Museum für Karikatur und kritische Grafik, im Wilhelm-Busch-Museum Hannover aufbewahrt wird.

Noch eine andere Zeichnung von Edward Sorel befindet sich in den Sammlungen des Deutschen Museums für Karikatur: sein Titelblatt für die Doppelnummer des „New Yorker“ vom 22. Februar und 1. März 1999 mit dem Titel „City of Dreams“. Zu sehen ist New York als schwimmendes Traumschiff, dem die Kunst und das Showbusiness Glanz verleihen, während die wirtschaftliche Macht demonstriert wird durch die Börse und – die beiden Türme des World Trade Center. Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 kann man diese Zeichnung nicht mehr unbefangen betrachten – und das „Traumschiff“, das vor einem eher düsteren Nachthimmel durch die See kreuzt, wirkt auf einmal sehr gespenstisch.

Edward Sorels Zeichnung, die er aus Anlass der heutigen Preisverleihung des „Karikaturpreises der Deutschen Anwaltschaft“ gemacht hat, ist für mich ein durchaus „typischer Sorel“. Der Künstler hat dafür ein biblisches Thema gewählt: Die Verkündung der Zehn Gebote durch Moses. Statt Menschen agieren bei ihm jedoch Hunde, und so lauten die Gebote: „Bei Fuss / Bleib / Komm / Sitz / Apport / Mach Männchen / Pfote / Platz / Spring / Fass“. Ein Bild, das in vielerlei Hinsicht nachdenklich stimmt.

Im Namen der gesamten Jury möchte ich nun Edward Sorel sehr herzlich zu dem Karikaturpreis der deutschen Anwaltschaft gratulieren – Congratulations, dear Edward Sorel, on behalf of the whole jury for the „Caricature Award of the German Legal Profession“.