Laudatio von Dr. Gisela Vetter-Liebenow M.A., Stellvertretende Direktorin des Wilhelm-Busch-Museums Hannover – Deutsches Museum für Karikatur und kritische Grafik
Laudatio auf Marie Marcks anlässlich der Verleihung des Karikaturpreises der Bundesrechtsanwaltskammer am 9. September 2004
Liebe, verehrte Marie Marcks, sehr geehrte Frau Ministerin, meine Damen und Herren,
in der Süddeutschen Zeitung konnte man 1973 eine Karikatur von Marie Marcks mit dem Titel Ruf nach Bremen finden. Sie zeigte ein junges Paar, das sich an einem Tisch gegenüber sitzt: der Mann – mit lockigem Haar und langem Bart – wirkt verzagt und gedrückt, seine Schultern hängen herunter, sein Blick ist gesenkt und seine Mundwinkel sind nach unten gezogen. Seine Frau - mit langem, strähnigem Haar – versucht ihn zu trösten, greift über den Tisch nach seinen Händen und selbst ihre Füße suchen den Kontakt mit seinen. Der Text in der Sprechblase – Worte der Frau wohlgemerkt – erklären das Problem, das die beiden so offensichtlich miteinander haben: „Nun muffel' doch nicht gleich wegen meinem Ruf nach Bremen; du kannst ja da einen Kinderladen machen. Oder irgendwas!“ – Die Frauenbewegung scheint es geschafft zu haben: das traditionelle Rollenschema ist aufgehoben, dieses Mal muss der Mann – genauso schweren Herzens wie sonst oft die Frau – wegen der beruflichen Karriere seiner Partnerin zurückstecken, einen Orts- vielleicht auch Berufswechsel in Kauf nehmen. Aber diese Karikatur von Marie Marcks zeigt keinen Regelfall – schon gar nicht für die siebziger Jahre. Zwar gilt für die Frau in Deutschland auch 1973 bereits längst das im Grundgesetz festgelegte Grundrecht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – aber die Realität sieht anders aus. Und heute? Auf der Internetseite des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit liest man ganz aktuell: „Gleichberechtigung – eine gesellschaftspolitische Herausforderung ersten Ranges: Die Gleichberechtigungspolitik kommt voran, aber immer noch zu langsam. Die Landesregierung sieht eine wesentliche Aufgabe darin, Benachteiligungen abzubauen, denn die Chancen zwischen Frauen und Männern sind ungleich verteilt: es gibt Rollenklischees, Doppelbelastungen, Vorurteile und Diskriminierungen …“
Nehmen wir eine andere Karikatur von Marie Marcks, die 1984 unter dem Titel „Der gute Wille ist da“ ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist: Vier Männer sitzen, Zigarette rauchend, um einen Tisch, vor sich einen Bierkrug oder ein Weinglas. Sie haben offensichtlich schon eine ganze Weile angestrengt und ernsthaft erörtert, was der eine so auf den Punkt bringt: „Das Problem ist doch: Es gibt gar keine qualifizierte Frau für diesen verantwortungsvollen Posten. Oder wissen Sie eine?“ und die anderen bestätigen: „Genau!“, konzedieren: „Leider nein“ oder murmeln „Tja...“ Die Frau am Tisch, klein und still, nehmen die vier Herren gar nicht erst wahr.
Marie Marcks weiß, wovon sie spricht, wenn sie „Frauenleben“ zeichnet: 1922 in Berlin geboren, hat sie – ich zitiere aus ihrer Biographie – von „1944 bis 1961 fünf Kinder“ großgezogen, und „somit auch viele Jahre Ehe- bzw. Hausfrauen- und Mutterdasein, davon etliche auch ehe- bzw. mannlos“ durchlebt.
1984 ist der erste Band ihrer autobiographischen Aufzeichnungen unter dem Titel Marie, es brennt erschienen, 1989 der zweite Teil unter dem Titel Schwarz-weiß und bunt. Beide Bücher sind nicht nur aufgrund der vielen eingestreuten Zeichnungen und Karikaturen eine interessante und vergnügliche Lektüre, sondern auch aufgrund des lebendigen und unprätentiösen Schreibstils von Marie Marcks – und natürlich, weil sie viel zu erzählen hat. Eine Kostprobe aus diesen Erinnerungen an die Nachkriegsjahre und ihre alltäglichen Sorgen als zu dieser Zeit allein erziehende Mutter: „Zweimal in der Woche lief ich in die Stadt: Zum Stempeln und aufs Wohnungsamt. Auf dem freien Markt war eine Wohnung unbezahlbar und eine bewirtschaftete zu erwischen fast aussichtslos.“ Doch es gelingt ihr, eine 2-Zimmerwohnung zu ergattern: „... aber damit war ich noch lange nicht drin, ging es bei der Zuteilung darum, möglichst kinderreich zu sein, so empfahl sich vor Ort doch Kinderlosigkeit. – Die gute Frau nahm mich und wies mir NICHT wegen verdeckter und verschwiegener Mängel die Tür! Noch am gleichen Tag fingen wir an zu renovieren. Die Wirtin schaute ab und zu rein, nicht unfreundlich, wie mir schien. Als alles frisch gestrichen war ... und die alte Dame immer noch freundlich war, holte ich Uchen und zeigte sie vor. Und als das gutgegangen war, rückte ich nach ein paar Wochen mit Matthias raus. Da sagte sie erst mal gar nichts. Und dann: ‚Ja, ja, – ich weiß, wie das ist. Ich bin selber geschieden und musste mit meinen beiden Söhnen alleine durchkommen.“
Marie Marcks wuchs in einer durch und durch künstlerisch geprägten Umgebung auf. Ihr Vater Dietrich Marcks war Architekt, ihr Onkel Gerhard Marcks Bildhauer. Ihre Mutter Else Marcks-Penzig war Meisterschülerin von Emil Rudolf Weiß, der als Erneuerer der deutschen Buchkunst gilt. Sie arbeitete als Buchgrafikerin und unterrichtete Zeichnen und Schrift an der Berliner Unterrichtsanstalt des Königlichen Kunstgewerbemuseums sowie an ihrer eigenen Kunstschule. 1995 hat Marie Marcks für die Typographische Gesellschaft München ein schmales, typografisch aufwendig gestaltetes Buch über Else Marcks-Penzig herausgebracht. Wenn sie darin von der Arbeit ihrer Mutter erzählt, zeichnet sie zugleich auch ein lebendiges Bild ihrer Kindheit: „Von Mitte der 20er bis Mitte der 30er Jahre entwarf sie die meisten Bucheinbände für die Deutsche Buchgemeinschaft, den Insel- und den Fischer-Verlag. Samuel Fischer war ihr alter väterlicher Freund. Mammi is im Fischerla, das war für uns Kinder klar, wenn sie nicht zu Haus war, und bei diesem Kürzel ist es geblieben.“
Nach der Ausbildung an der Kunstschule der Mutter studiert Marie Marcks von 1943-1945 vier Semester Architektur in Berlin und Stuttgart, nach Abbruch des Studiums und der Geburt ihres ersten Kindes ist sie als freie Malerin und Grafikerin tätig. Sie entwirft u. a. Einladungen und Plakate für den Filmclub Heidelberg und den legendären Heidelberger Jazzclub CAVE 54.
Marie Marcks' Hinwendung zur Karikatur steht in engem Zusammenhang mit den politischen Debatten in Deutschland in den 50er Jahren: Die Atombombenversuche der Amerikaner, die Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland und der Beitritt zur Nato mit dem darauf folgenden Wettrüsten in Ost und West waren auch für Marie Marcks beherrschende und alarmierende Themen. Es formierte sich die Friedensbewegung gegen die nukleare Abschreckung im Zeichen des Kalten Krieges, gegen das „Gleichgewicht des Schreckens“.
Marie Marcks erlebte die Entwicklung bereits seit Ende der 50er Jahre in Amerika, wo ihr Mann 1957 in Yale sein Post-Doctor-Fellowship angetreten hatte und am National Laboratory in Brookhaven Strahlungsversuche unternahm: „Das war mir keineswegs geheuer: Allmählich war ja bekannt, welche Spätschäden die Bombe von Hiroshima … verursacht hatte … Dass die Wissenschaftler im National Lab nicht nur im Elfenbeinturm der reinen Forschung hockten und allein dem puren Geist dienten, war anzunehmen. Die Verflechtung von Forschung und Rüstung wurde zwischen uns heiß diskutiert und später von Helmut in etlichen Aufsätzen in der wissenschaftspolitischen Zeitschrift atomzeitalter behandelt ...“
Auch Marie Marcks macht in dieser Zeitschrift ihrem Protest Luft: Ab 1963 veröffentlicht sie erste politische Karikaturen. „Meine bevorzugten Themen“ – so schreibt sie im Rückblick – „waren immer wieder die Wissenschaftler, die bewusst oder unbewusst dem Militär zuarbeiten …“ Und so werden in einer Zeichnung aus den Hühnerdieben Max und Moritz Soldaten, die sich aus der ‚Suppenküche' des Wissenschaftlers hochexplosive Sprengkörper holen: Schwupdiwup! Da wird nach oben ein Bömbchen schon heraufgehoben.
Den Vietnamkrieg erlebt Marie Marcks zeitweise in Amerika, wohin sie wiederum ihren Mann begleitet hatte. In ihren autobiografischen Aufzeichnungen Schwarz-weiß und bunt erinnert sie sich: „Helmut war an der Uni Berkeley im Zentrum der Studentenbewegung. Die großen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg wurden von ihr getragen, die Flower-Power bestimmte das Erscheinungsbild. Natürlich waren wir dabei! Einer der ersten Sätze, die Fränze schreiben konnte, war: MAKE LOVE NOT WAR. Als wir im Herbst 1967 zurückkamen, schickten sich die Studenten bei uns gerade an, den Muff von 1000 Jahren aus den Talaren zu lüften.“
Ein zentrales Thema im Werk von Marie Marcks ist die Rolle der Geschlechter. Mit ihren Zeichnungen hat sie die Frauen-Emanzipation zu einem Thema der Karikatur gemacht. Dabei verstand sie sich zu Anfang nicht als Feministin: „Feminismus? Kannte ich gar nicht. Ich habe immer meine eigene Position gehabt“. Für die Frauenbewegung wurde Marie Marcks jedoch zu einer bewunderten Kämpferin für ihre Rechte – mit einem ausgeprägten Sinn für Ironie. Und das erlaubt es ihr auch, durchaus spöttisch so manche Auswüchse der Frauenbewegung zu kommentieren. Was sind Männer noch wert, könnte eine Karikatur überschrieben sein, in der Marie Marcks uns Zeugen einer Geburt sein lässt. Gleich vier Frauen haben der werdenden Mutter assistiert. Durch das walkürenhafte Aussehen und wohl auch Auftreten dieser Hebammen hat sich der Vater so entmutigen lassen, dass er sich mit seinem Blumenstrauß kaum getraut, näher zu kommen. Aber nicht nur das hält ihn offenbar ab, sondern auch der erschreckte Blick der Mutter, der den Betrachter Schlimmes befürchten lässt. Da helfen auch die gut gemeinten, tröstenden Worte ihrer Geburtshelferinnen nicht viel: „Wenigstens ist alles dran!“ oder „Du kannst doch nix dafür“ bekommt sie gesagt. Was aber ist passiert? Wir hören es aus dem Munde einer der Hebammen: „Tut mir echt leid, - aber es ist nur ein Junge!“
So gewichtig der Anteil der Frauenthemen in ihrem Werk auch ist, so wenig hat sich Marie Marcks darauf beschränkt. Sie wolle nicht, so hat sie einmal in einem Interview festgehalten, „genau in die Nische abgedrängt [werden], in die Frauen immer geschubst werden: weg von der großen Politik, hin zu Sozial- und Frauenthemen.“ Deshalb hat Marie Marcks über zwanzig Jahre lang für die Süddeutsche Zeitung gezeichnet, ihre Karikaturen aber auch in der ZEIT, im Spiegel, im stern oder im Vorwärts veröffentlicht, ebenso wie in der bereits erwähnten Zeitschrift atomzeitalter und in betrifft: erziehung. Themen, die sie besonders berührt haben, waren neben dem atomaren Wettrüsten die Zerstörung der Umwelt, die Asylrechtsdebatten, der Rechtsradikalismus und nicht zuletzt die Justiz, wie ihre Zeichnung für die Bundesrechtsanwaltskammer ja deutlich zeigt.
„Politische Karikaturen, die bloßstellen statt belustigen, haben es nicht leicht“, so Marie Marcks, die auch bekennt: „Ich bin mit Abstand die meist indizierte Zeichnerin bei der Süddeutschen.“ Ein Beispiel dafür ist die 1985 abgelehnte Zeichnung Grenz- und Hoechstwerte: „Für Sie ist also ein Grenzwert etwas grundsätzlich anderes als ein Hoechstwert, Herr Regierungsrat?“. Blättert man durch die große Zahl ihrer Karikaturen, stößt man auf viele eindringliche Blätter, auf Zeugnisse ihres politischen Engagements, manchmal auch ihrer Wut, denn es geht ihr „ … um Aufklärung und Agitation, na ja, und manchmal auch um Wut ablassen. Meistens werden die Karikaturen gut, wenn man sich wirklich aufgeregt hat. Und dann bedarf es der Umsetzung ins Lächerliche. Wenn die Leute über eine Situation lachen können, dann ist natürlich auch Bosheit dabei.“ Dies gilt zum Beispiel, wenn Marie Marcks 1980 die Attacken der damaligen englischen Premierministerin Margaret Thatcher gegen die Europäische Union mit dem antiken Mythos von Europa und dem Stier verknüpft und zugleich neu interpretiert: Margaret Thatcher ist dem Stier, der hier die EU verkörpert, in Gestalt des britischen Löwen auf den Rücken gesprungen, krallt sich in sein Fell und beißt ihn in den Nacken. Der Stier ist paralysiert, zu einer Gegenwehr nicht fähig – was ein Blick auf seine vor Schreck geweiteten, hilflos erstarrten Augen unmissverständlich zeigt. Eine Karikatur, die ganz ohne Worte auskommt und doch einen komplexen Sachverhalt erzählt: ein klassischer editorial cartoon.
Mit Blättern wie diesen stellt sich Marie Marcks souverän in die lange Reihe illustrer politischer Karikaturisten. James Gillray, Honoré Daumier oder Olaf Gulbransson gehören in diese Tradition, oder – in der Gegenwart – Ernst Maria Lang, Walter Hanel und, als Vertreter der jüngeren Generation, Heribert Lenz und Achim Greser.
Viele Satiriker beklagen immer wieder die Aussichtslosigkeit, mit ihren Zeichnungen aufrütteln, verändern, die Welt verbessern zu können. Aber Marie Marcks beweist bis heute, dass Resignation die falsche Antwort ist. Dass – so schwerfällig und langsam sich die Gesellschaft auch ändert und so vergeblich auch manche Anstrengung scheint – es keine Alternative für das permanente Aufbegehren gibt. Und es ist dieses ständige sich einmischen, sich engagieren, dieses Den-Mund-nicht-halten-können, das Marie Marcks vor allem auszeichnet. Bis heute gibt es auch kaum ein Gespräch mit ihr, das nicht ganz schnell in eine angeregte Diskussion über aktuelle politische Ereignisse oder grundlegende gesellschaftliche Missstände mündet. Marie Marcks ist dabei immer auch neugierig auf andere Positionen - und sei es nur, um ihre eigene Argumentation zu schärfen. Und auch das ist für ihr Werk bezeichnend: Ihre klare, unabhängige Position, die kritische und skeptische Grundhaltung, die aus einer bemerkenswerten Unbestechlichkeit ihrer Sicht der Dinge resultiert.
In diesem Sinne gratuliere ich Marie Marcks im Namen der gesamten Jury sehr herzlich zu dem Karikaturpreis der deutschen Anwaltschaft.