Laudatio

Andreas Platthaus, Chef des Ressorts Literatur und literarisches Leben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Mitglied der Jury

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Herr Pawel Kuczyński,

Anfang Juni dieses Jahres kam das wöchentlich erscheinende polnische Nachrichtenmagazin „Wprost“ mit einem Titelbild von Pawel Kuczyński heraus, das Garry Kasparov zu einer medienbedingt knappen Lobeshymne auf Twitter hinriss: „Brilliant cover of a Polish magazine. A single donated bullet does more to stop Putin’s genocidal war on Ukraine than 100 hours of calls from Macron and Scholz, which only convince Putin he can end things on his terms whenever he wants.“

Die Gegenüberstellung der Wirkung von Worten und Waffen, die der ehemalige sowjetische Schachweltmeister und heute als kroatischer Staatsbürger im Exil lebende Putin-Gegner hier vornahm, wurde Kuczyńskis Zeichnung gleich doppelt gerecht: Inhaltlich, weil das Motiv einen überdimensionalen Telefonhörer zeigte, in das die Staatschefs Olaf Scholz und Emmanuel Macron an der einen Seite hineinsprechen, während Wladimir Putin auf der anderen Seite in der Hörmuschel ein Blutbad nimmt. Formal, weil Kuczyński selbst sich noch nie auf die Wirkung von Worten verlassen hat. Im Gegenteil: Wortlosigkeit ist sein Programm als Karikaturist. Umso schärfer sind die Waffen, die seine Zeichnungen darstellen. Was ohne Worte auskommt, wird auf der ganzen Welt unmittelbar verstanden. Und so lautet denn auch die deutsche Übersetzung des polnischen Zeitschriftentitels „Wprost“: „Direkt“.

 „Wprost“ hat einen Ruf zu verlieren, was seine provokativen Titelbilder angeht. Das Magazin zeigte etwa 2016 die deutschen Politiker Angela Merkel, Martin Schulz und Günther Verheugen nebst einigen weiteren EU-Größen als Hitler-Generäle, die sich aufmachten, Polen zu beherrschen. „Wprost“ ist aber kein willfähriges Organ des polnischen

Nationalismus, denn als vor anderthalb Jahrzehnten die Kaczynski-Zwillinge gemeinsam das Land regierten, wurden sie von dem Blatt als Säuglinge verspottet, die am Busen der deutschen Bundeskanzlerin genährt wurden. Beide Titelbilder stammten nicht von Pawel Kuczyński, dem die groteske, auch obszöne Drastik solcher Darstellungen fremd ist, doch die Vehemenz des darin ausgedrückten Zorns setzte er 2022 als neuer Coverzeichner des Blattes konsequent fort, als es um die nimmermüden Vermittlungsversuche von Schulz und Macron in Russlands Krieg gegen die Ukraine ging. Als deren Nachbarland ist Polen dieses deutsch-französische Bemühen suspekt, und auch wenn Kuczyński selbst noch nie in der Ukraine war, wie er einer dort herausgegebenen Internetzeitschrift gesagt hat, war sein Blick als Karikaturist schon länger dorthin gerichtet. Es herrscht ja faktisch Krieg im Land seit 2014, als Russland seine Truppen auf der Krim einmarschieren ließ. Wir, die wir westlich von Polen leben, jenseits dieses für uns so bequemen Abgrenzstaats zum ehemaligen sowjetischen Machtbereich, haben es nur nicht wahrgenommen. Oder wahrhaben wollen.

Kuczyński wurde 1976 in Szczecin, dem früheren Stettin, geboren und wuchs also noch im kommunistischen Polen auf. Entsprechend hat er das Sensorium für totalitäre Machtstrukturen vermittelt bekommen und später als Beobachter und graphischer Kommentator der Entwicklungen in Osteuropa noch die Erfahrung machen müssen, dass Denkmalstürze nicht zwingend auch das Denken umstürzen, wie eine seiner brillantesten Karikaturen zeigt. Rot ist notgedrungen eine seiner Signalfarben – historisch und biologisch. Wenn Putin auf dem „Wprost“-

Titelbild nackt in einer rotgefärbten Flüssigkeit sitzt, versteht jeder, dass es sich um Blut handeln soll. Aber auch, dass der russische Präsident im Zeichen des kommunistischen Rots die sowjetischen Praktiken fortsetzt. Intensität und Intelligenz solcher Farbeinsätze von Pawel Kuczyński ist ein weiteres der Erfolgsrezepte dieses Karikaturisten, der bei der Reinzeichnung immer noch ganz klassisch mit Aquarellpinsel und Buntstiften arbeitet, obwohl sein wichtigstes Forum längst nicht mehr die Papierausgaben von Zeitungen oder Zeitschriften sind, sondern deren Netzausgaben und die eigene Homepage. „Wprost“ etwa erscheint seit dem März 2020 nur noch als Online-Ausgabe, und so geht es bekanntlich vielen Publikationen weltweit.

Für Karikaturisten, zumal wortlos arbeitende wie Kuczyński, muss das keine schlechte Nachricht sein. Ihrer Verbreitung kann das elektronische Publizieren, können die Zugriffsmöglichkeit von überall her nur nutzen, und je weniger wortbetont, desto besser werden sie eben überall verstanden. Dem kritischen Potential von Karikaturen ist das natürlich zuträglich, und ihrem Witz ist es nicht abträglich. Kann man es nicht vielmehr als Zeichen von karikatureskem Unvermögen ansehen, wenn gezeichnete Zerrbilder erläuternd beschriftet werden – auf der Aktentasche von Politikerkarikaturen etwa deren Namen oder Parteien stehen, unter nationalen Symbolen die Staatsbezeichnungen, wenn Figuren Banner wie Sprechblasen vor sich hertragen oder gleich ganz in Comicmanier reden? Zwar gibt es Karikaturisten, denen auch mit solchen Arbeitsweisen grandiose Arbeiten gelingen, und zwei von ihnen, das Duo Greser & Lenz, sind sogar als Gewinner des Karikaturenpreises der deutschen Anwaltschaft Pawel Kuczyński vorangegangen, doch in ihren Zeichnungen werden gerade solche schriftlichen Hilfsmittel bevorzugt ironisch eingesetzt. Ein bewusstes Übermaß an dem Bild beigegebenen Erläuterungen zum Beispiel ist auch wieder komisch. So etwa in ihrem berühmten Bild vom Limburger Domberg, in dem es vor Erläuterungen nur so wimmelt. Aber Kuczyński hat in einer seiner besten Karikaturen ein nicht minder charakteristisches Spottbild von der Diskrepanz zwischen katholischer Frömmigkeit und gesellschaftlicher Kirchenpraxis gezeichnet: Martin Luther hätte wohl an dieser Beichtstuhlwäschetrommel und dem entsprechenden Abwaschhandel seinen Spaß gehabt. Und natürlich: ohne Worte. Was soll man da auch noch sagen?

Wobei die oft bei Karikaturen erwartete Kombination von Bild und Text gar nicht so typisch ist für die bald fünf Jahrhundert währende Geschichte dieser Spottart. Beginnend mit den italienischen Künstlerbrüdern Carracci im sechzehnten Jahrhundert und früh gipfelnd in Gianlorenzo Berninis Meisterwerken der Barockzeit, waren deren Zerrbilder anfangs wortlos, weil sie durch ein künstlerisches Idiom charakterisiert sind, das unmissverständlich daherkam. Weniger entscheidend war die Neigung zur Vorsicht, wenn sie auch mehr als angebracht war. Wen wundert’s etwa, dass Berninis bösartige Personenkarikaturen nur im verborgenen privaten Zirkel kursierten; seine Zeichnung von Papst Innozenz XI. als ausgezehrtem Bettlägrigrem hätte ihm die Inquisition auf den Hals hetzen können, weil sie dem Vorbild zwar nicht physiognomisch, aber charakterlich so unverkennbar ähnlich war. Da brauchte niemand mehr eine namentliche Kennzeichnung auf dem Blatt. Nur wo die künstlerischen Mittel beschränkt sind, muss das, was man sieht, erläutert werden – so wie in dem allgemein als älteste Karikatur bezeichneten Graffito in den Überresten eines römischen Kaiserpalastes auf dem Palatin, mit dem ein anonymer und künstlerisch erkennbar unbedarfter Spötter im dritten Jahrhundert seine Verachtung für das damals aufkommende Christentum kundtat. Unter dem von einem Legionär angebeteten gekreuzigten Esel steht als Erläuterung: „Alexamenos verehrt seinen Gott“. Ging es noch brachial- und banal-deutlicher? Keine Überraschung, dass die Karikaturenkunst danach dreizehn Jahrhunderte brauchte, um sich von diesem graphischen Tiefpunkt zum Beginn wieder zu erholen.

Dennoch ist die Konsequenz, mit der Kuczyński auf Texte verzichtet, selten. Aber er setzt bei seinem Publikum auf Belesenheit und Erfahrung im Umgang mit kulturellen Symbolen. Nehmen wir der Einfachheit halber zur Verdeutlichung sein Preisträgerblatt für die BRAK (da können wir auch gleich motivisch in der Antike bleiben). Es ist eine Kampfkarikatur, obwohl die Botschaft eine auf einen künftigen Frieden gerichtete ist: Toga, Augenbinde und Waage lassen jeden einigermaßen Gebildeten in dieser jungen Frau Justitia, die Personifikation der Rechtsprechung, erkennen, und das international gebräuchliche Paragraphenzeichen als Metallspürgerät zur Minensuche lässt ebenfalls keine Fragen offen: Die Justiz ist gefragt bei der Bewältigung der Folgen des Krieges. Der grüne Helm der allegorischen Figur und das Ruinendekor schließlich setzen die Figur in den Kontext von Russlands Angriff auf die Ukraine, dessen verbrecherische Praktiken der Aburteilung durch das internationale Völkerrechtssystem harren. Deutlicher kann man nicht karikieren.

Wer meinte, schmerzlicher wohl auch nicht, dem sei indes eine andere Justizkarikatur von Pawel Kuczyński vorgeführt, deren Betrachten geradezu körperliche Pein auslöst, derart scheußlich drastisch ist die Blendung dieser Gerechtigkeitspersonifikation hier visualisiert – und zwar durch den Buchstaben des Gesetzes, wiederum symbolisiert durchs Paragraphenzeichen. Die Karikatur nimmt sich die grausame Hinrichtungsmethode des Garottierens zum Vorbild und steigert in ihrer Variation den Ekel ihres Anblicks noch. Die Verwendung eines Paragraphen als Marterinstrument wirft übrigens nachträglich einen  Schatten auf den konstatierten Optimismus der eben gezeigten Preisträgerkarikatur: Vom aufklärerischen Wirken eines paragraphischen Minenspürgeräts wird sich der justizskeptische Kuczyński wohl doch nicht allzu viel versprechen. Er arbeitet als Karikaturist ja auch in einem Rechtsstaat, der in den letzten Jahren systematisch auf Regierungsinitiative hin zu einem Selbstgerechtigkeitsstaat degeneriert ist. Dagegen anzuzeichnen, dazu gehört Mut, aber seine Pressefreiheit hat sich Polen noch nicht abhandeln lassen. Satiriker leben dort nicht gefährlich. Man stelle sich dagegen Kuczyńskis kompromisslos gegen alle Interessengruppen agitierende Drastik im Mexiko unserer Preisträgerin Camdelafu vor. Es ist eine Mär, dass in repressiven Regimen oder Gesellschaften die Satire deshalb blühe, weil die Menschen daran gewöhnt seien, zwischen den Zeilen zu lesen. Unter Lebensgefahr macht man keine guten Witze. Camdelafus Karikaturen sind bei aller Brillanz nicht komisch.

Kuczyński hingegen, der mehr ist als ein politischer Kommentator, provoziert zum Lachen, zumal da sein besonderes Augenmerk der Rolle von Medien und Technik gilt und damit auch die normale Bevölkerung ins frivole Spiel seiner Zeichenkunst kommt. Der durch Buchlektüre als klassischer Bildungsbürger gekennzeichnete Badegast in einem von Handyflossen bevölkerten Haifischbecken ist ein ebenso genialer Einfall wie das Fernsehteam, dessen Kamera sich aus einem mitgeführten Sarg herausschält. Solche Zeichnungen weisen eine surrealistische Qualität auf, die ein typisches Merkmal von Kuczyńskis Bildersprache ist: Da ist ein Verliebter, dessen logisches Denken (personifiziert durch einen winzigen in einen Wissenschaftskittel gekleideten Raucher auf einem Balkon des Oberstübchens) im Moment des Kusses Pause macht. Oder die Versinnbildlichung sportlichen Wahnsinns durch das Siegerpodest einer Turmspringkonkurrenz, auf dessen Stufen immer kleinere Wasserbehälter stehen, während das eigentliche Becken leer ist. Das ist mehr als Allegorisierung: eine Allegro-Dosierung – höchstes Witztempo –, die Kuczyński hier verabreicht.

Den Klimawandel macht er anschaulich durch die Verwandlung eines menschlichen Kopfes in einen Toaster, der von der Sonne erhitzte Hirnhälften ausspuckt, oder die Bedrohung unseres Kommunikationsverhaltens durch Facebook, dessen weltweit bekanntes Markensignet Kuczyński in ein Periskop verwandelt, bei dem wir an die meist unsichtbaren U-Boot-Waffen der Atomstaaten ebenso denken dürfen wie an die aus Verzweiflung geborene Weltverweigerung von Jules Vernes Kapitän Nemo. Abgründig aber wird Kuczyńskis brillanter Einfall der Mutation des Facebook-Fs zum Sehrohr durch die braune Brühe, die es durchkreuzt: ein Meer aus uniform gekleideten jungen Leuten, deren einziger Kontakt zur Oberfläche ihres Sumpfes eben die sozialen Medien sind. Dass sich im Hintergrund eine mächtige Skyline aus den Fluten erhebt, dürfen wir als zusätzliche Spitze Kuczyńskis gegen die Sorglosigkeit unserer Spezies deuten: Fiat Facebook et pereat mundus.

Das ist Juristenlatein, aber sagen wir es klar und deutlich: Mit diesem Karikaturisten ehren wir einen großen zeitkritischen Kommentator, der seit mehr als zwanzig Jahren vorführt, was Karikatur vermag – gerade auch dann, wenn sie mit klassischen Mitteln arbeitet. Die vergebliche Telefondiplomatie der Herren Staatschefs Scholz und Macron erfolgt geographisch und symbolisch über die Köpfe der Polen hinweg. Wir müssen uns Pawel Kuczynkis Heimatland als unter dem riesigen Hörer zerquetscht vorstellen: Das putinsche Wannenbad dieser Karikatur gewinnt seine Füllung nicht nur aus den Massakern in der Ukraine, sondern auch indem andere Staaten bis aufs Blut gepeinigt werden. Doppelbödigkeit ist das Prinzip von Pawel Kuczyński. Doppelzüngigkeit dagegen ist ihm abhold. Solche Karikaturisten werden überall gebraucht. Man kann nur hoffen, dass seine kultur- und sprachübergreifende Kunst Schule machen wird. Serdeczne gratulacje, Panie Kuczyński, zum Karikaturpreis der deutschen Anwaltschaft.

Andreas Platthaus, Berlin, 14. September 2022