BGH: Gericht darf sich keine medizinische Sachkunde anmaßen
Das OLG Köln hatte einem physisch wie psychisch erkrankten Mann Arbeitsfähigkeit „attestiert“, ohne ein Sachverständigengutachten einzuholen.
Wenn ein Gericht zwei Befunde (hier: die eines Arztes und einer Psychologin) übergeht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichtet und dennoch die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen verneint, verletzt es das rechtliche Gehör. Im konkreten Fall habe das OLG Köln sich auf diese Weise „medizinische Sachkunde angemaßt“. Mit diesen deutlichen Worten hat der BGH einen Fall an das Berufungsgericht zurückverwiesen (Beschl. v. 12.03.2024, Az. VI ZR 283/21).
OLG Köln verzichtet auf Sachverständigengutachten
Die Dienstherrin eines bei einem Unfall am Handgelenk und Unterarm verletzten Feuerwehrmitarbeiters verlangte von dem damaligen Schädiger die Erstattung von gezahltem Gehalt und Vorsorgebezügen in Höhe von über 100.000 Euro für die Jahre 2011 bis 2016. Das LG Aachen hatte der Klage vollumfänglich stattgegeben, doch das OLG Köln hatte sie für den Zeitraum zwischen Mitte 2012 – 2016 abgewiesen. Zur Begründung führte das OLG aus, der Mann habe seine Schadensminderungspflicht aus § 254 Abs. 2 BGB verletzt, weil er nicht dargelegt habe, warum er nicht sich nicht um eine (volle) Erwerbstätigkeit bemüht hatte. Obwohl sowohl ein ärztlicher als auch ein psychologischer Befund ihm attestierten, nicht arbeitsfähig zu sein (u. a. wegen einer Depression, einem posttraumatischem Belastungssyndrom und einer chronischen Schmerzstörung in Hand und Rücken), nahm das OLG Köln das Gegenteil an.
Den Kölner Richtern reichten für diese Feststellung die zahlreichen Nebentätigkeiten des Mannes aus: So war er ab Mitte 2012 in geringem Umfang als Betreuer einer Wohngruppe bei der Caritas beschäftigt (was ihn laut Befund sehr belastete). Zudem sei er als Vermieter einer Ferienwohnung aktiv (etwa zwei Std. in der Woche), habe ein Gebäude erworben und restauriert bzw. renoviert und betreibe darin mit anderen eine Galerie (nur am Wochenende geöffnet). Auch vertreibe er online selbst aufgenommene Fotos. Schließlich betätige er sich als Waldführer und habe bereits mehrere mehrtägige Jugendfreizeiten durchgeführt. Mangels schlüssigen Vortrags müsse das OLG daher auch keine Sachaufklärung unternehmen – daher holte es kein Sachverständigengutachten zu dieser Frage ein. Auch die Revision ließ es nicht zu.
BGH: Gericht hatte hier keine entsprechende Sachkunde
Die hiergegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde hatte nun vor dem BGH Erfolg. Das OLG habe den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Der Tatrichter dürfe, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem müsse das Gericht in diesen Fällen den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen. Diesen Anforderungen genüge das Berufungsurteil nicht.
Damit habe sich das Berufungsgericht medizinische Sachkunde bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten angemaßt, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt hat, so der BGH. Das OLG hätte die Arbeitsfähigkeit im angenommenen Umfang angesichts der ärztlichen Bescheinigungen nicht bejahen dürfen, ohne ein qualifiziertes Sachverständigengutachten einzuholen.
Auch hätten sich die Kölner Richterinnen und Richter mit dem Vortrag auseinandersetzen müssen, wonach die Vermietung der Ferienwohnung zusammen mit seiner Frau erfolge und daher einen wöchentlichen Zeitaufwand von lediglich zwei Stunden erfordere. Zudem habe die Galerie lediglich an Wochenenden geöffnet. Auch hätte das OLG von der geringfügigen Tätigkeit für die Caritas nicht darauf schließen dürfen, dass der Geschädigte "bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung" arbeitsfähig sei. Hierbei gehe das Gericht nicht auf den Einwand der Klägerin ein, der Mann sei selbst von dieser Tätigkeit körperlich und psychisch überfordert gewesen.
Nun muss sich das OLG Köln erneut mit dem Fall beschäftigen und hierzu ein Sachverständigengutachten einholen.