Zivilprozess

BGH zu den Voraussetzungen der Beiziehung von Strafakten

Strafakten können im Zivilprozess grundsätzlich beigezogen werden, sofern das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausreichend beachtet wird.

27.04.2023Rechtsprechung

Ermittlungs- bzw. Strafakten können grundsätzlich in einem Zivilverfahren beigezogen werden, wenn ein entsprechender Vorlegungsanspruch besteht, so der BGH. Dies gelte auch dann, wenn sich Inhalte dieser Akten zusätzlich im Besitz der Prozessgegner befänden. Grundrechten wie insbesondere dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung könne durch eine Interessenabwägung des Gerichts und eine Beschränkung der Einsichtnahme Rechnung getragen werden (Urt. v. 16.03.2023, Az. III ZR 104/21). 

Ein Mann verlangt von seiner ehemaligen Freundin die Rückzahlung von insgesamt rund 43.000 Euro. Er beschuldigt sie, diese Summe während etwa fünf Monaten ohne seine Einwilligung von seinem Konto abgehoben zu haben. Dies war ihr möglich, weil er ihr während der Zeit seiner Genesung von einem schweren Motorradunfall seine Bankkarte inklusive PIN gegeben hatte, um eine bestimmte Summe für ihn abzuheben. Ein deswegen eingeleitetes Strafverfahren wurde jedoch eingestellt. Im jetzigen Zivilprozess verlangt der Mann, die Strafakte inklusive eines Sonderbandes über Bankauskünfte zu den Konten seiner Ex-Freundin und ihres Sohnes beizuziehen. Er erhofft sich dadurch, Indizien zu finden, ob die Zeitpunkte der Abhebungen von seinem Konto mit Einzahlungen auf den Konten korrelieren.

In den Vorinstanzen hatte er mit seinem Antrag auf Beiziehung der Strafakte keinen Erfolg. Das Landgericht wies die Klage gänzlich ab. Das Oberlandesgericht (OLG) Nürnberg sprach ihm zwar immerhin 12.000 Euro für bewiesene Abhebungen zu. Es verweigerte jedoch die Beiziehung der Strafakte. Zur Begründung führte das OLG aus, die Bankunterlagen (im Original) seien im Besitz der Beklagten und könnten daher nur unter den Voraussetzungen der §§ 422 f. Zivilprozessordnung (ZPO) herausverlangt werden – diese Voraussetzungen lägen hier aber nicht vor. Diese Vorschriften würden umgangen, wenn die gleichen Unterlagen nun stattdessen von der Staatsanwaltschaft verlangt würden.

BGH: Beiziehung von Strafakten grundsätzlich möglich

Der BGH sah in dieser Entscheidung jedoch eine Verletzung des klägerischen Anspruches auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz, wonach erhebliche Beweisanträge berücksichtigt werden müssten. Die Begründung des OLG finde im Prozessrecht keine Stütze. Die §§ 422 f. ZPO regelten zwar Ausnahmefälle, in denen Prozessgegner zur Vorlegung einer in ihrem Besitz befindlichen Urkunde verpflichtet seien - obwohl sie grundsätzlich nicht dem beweis(führungs)belasteten Gegner das Material für seinen Prozesssieg verschaffen müssten. Diese Einschränkungen seien jedoch nicht relevant im Verhältnis zu Dritten, die sich im Besitz einer Urkunde befänden. Maßgeblich für deren Vorlagepflicht sei allein, ob die beweisführungsbelastete Partei im Verhältnis zu ihnen einen Vorlegungsanspruch habe.

Gemäß § 432 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO habe eine Partei grundsätzlich die Möglichkeit, im Zivilprozess (Teile von) Ermittlungs- beziehungsweise Strafakten beiziehen zu lassen. § 474 Abs. 1 StPO gewährt u.a. Gerichten Akteneinsicht, wenn dies für Zwecke der Rechtspflege erforderlich ist. Damit lege das Gesetz die Gewährung von Akteneinsicht an Gerichte sogar als Regelfall fest, so der BGH. Es entspreche auch dem Willen des Gesetzgebers, den Gerichten grundsätzlich Akteneinsicht zu gewähren. Im konkreten Fall hätte das Gericht dem Antrag auch stattgeben müssen.

Grundrechte der anderen Partei oder Dritter wie das auf informationelle Selbstbestimmung stünden der Aktenbeiziehung und der Einsichtnahme durch die Gerichte in aller Regel nicht entgegen. Diesen Grundrechten könne vielmehr dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht die schutzwürdigen Interessen der anderen Partei und gegebenenfalls Dritter abwägt und so prüft, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Informationen aus der Akte im Zivilverfahren verwertet werden können. Im konkreten Fall könnte das Gericht beispielsweise die Einsichtnahme auf (etwaige) zeitlich beschränkte Einzahlungen auf die Konten der Beklagten und ihres Sohnes beschränken. Mit diesen Vorgaben hat der BGH das Verfahren an das OLG Nürnberg zurückverwiesen.