Beratungs- und Aufklärungspflichten

BGH zu rechtsschutzversicherten Mandanten: Anwälte müssen über Veränderung der Erfolgsaussichten aufklären

Wenn sich die Sach- oder Rechtslage und damit die Erfolgsaussichten während eines Prozesses verändern, muss der Anwalt seinen Mandanten darüber aufklären, unabhängig davon, ob der rechtsschutzversichert ist. Tut er das nicht, kann er haften – auch gegenüber dem Rechtsschutzversicherer, der selbst Deckungsschutz zugesagt hatte.

06.10.2021Rechtsprechung

Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat eine grundlegende Entscheidung zur Anwaltshaftung getroffen. In gleich mehreren Leitsätzen stellt der BGH klar, dass die Pflicht des Rechtsanwalts, seinen Mandanten über die Erfolgsausssichten einer beabsichtigten Rechtsverfolgung zu beraten, unabhängig davon besteht, ob der Mandant rechtsschutzversichert ist oder nicht.

Außerdem trifft der Senat grundlegende Ausführungen zum Umfang der anwaltlichen Beratungspflicht auch während eines laufenden Prozesses und zur Kausalität eines Beratungsfehlers für einen später entstehenden Schaden. Zwar können ein bestehender Deckungsanspruch des Mandanten gegen einen Rechtsschutzversicherer oder eine bereits vorliegende Deckungszusage einen Anscheinsbeweis zum Nachteil des Anwalt ausschließen.

Das gilt aber, wie der BGH jetzt klarstellt, dann nicht, wenn die Rechtsverfolgung objektiv aussichtslos war (BGH, Urt. v. 16.09.2021, Az. IX ZR 165/19). Dann gilt also zu Lasten wieder der Grundsatz, dass der Mandant im Zweifel nach dem anwaltlichen Rat gehandelt hätte, wenn der denn richtig erteilt worden wäre.

6 Tage nach Einlegung der Berufung: BGH entschied über Verjährungshemmung

In dem Verfahren wurde eine Anwaltskanzlei von einem Rechtsschutzversicherer aus übergegangenem Recht seiner Versicherungsnehmer (§ 86 Versicherungsvertragsgesetz) in Regress genommen. Der Versicherer verlangte von Anwälten Ersatz der Kosten des zweiten und dritten Rechtszugs eines Verfahrens, für die er jeweils Deckungsschutzzusage erteilt hatte.

In der Sache ging es um einen Anlagefehler eines Anlagevermittlers. Die Anwälte, die neben den Versicherungsnehmern auch für tausende andere Anleger tätig waren, hatten Ende 2012 Güteanträge bei einer staatlichen Vermittlungsstelle eingereicht, um die Verjährung zu hemmen, die Ende 2012 eintrat. Nachdem die 2013 eingereichte Klage der Versicherungsnehmer erstinstanzlich wegen Verjährung abgewiesen worden war, verkündete der BGH im Juni 2015, sechs Tage nach Einlegung der Berufung im hiesigen Verfahren, in anderer Sache ein Urteil, mit dem feststand, dass der Güteantrag der jetzt beklagten Kanzlei nicht den Anforderungen genügte, um die Verjährung zu hemmen. In der Folge blieb der BGH in mehreren Entscheidungen bei dieser Rechtsprechung. Auch auf einen entsprechenden Hinweis des Berufungsgerichts rieten die Anwälte den Versicherungsnehmern nicht dazu, die Berufung zurückzunehmen. Diese wurde sodann zurückgewiesen. Der Rechtsschutzversicherer erteilte auch für eine Nichtzulassungsbeschwerde Deckungsschutzzusage, die aber ebenfalls zurückgewiesen wurde.

Die Kosten für diesen zweiten und dritten Rechtszug wollte der Versicherer nun erstattet haben.  Und könnte damit, nach der Zurückverweisung an das Berufungsgericht, im Ergebnis Erfolg haben.

Nicht nur am Anfang, auch für nicht Rechtsschutzversicherte: die Beratungspflichten

Es sei kein Verstoß gegen Treu und Glauben, so die BGH-Richter, dass der Versicherer nun die Kosten erstattet haben will, obwohl er selbst zuvor die Deckungsanfragen für die jeweilige Instanz überprüft hat und die geltend gemachte Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung selbst hätte erkennen können. Im Verhältnis zwischen Versicherer und Rechtsanwalt des Versicherten gebe es nämlich kein Pflichten, insbesondere keine dazu, die Deckungsprüfung einzusetzen, um eine Haftung des Anwalts zu vermeiden.

Der BGH prüft, ob es zum Berufungs- und Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren gekommen - und damit die entsprechenden Kosten angefallen - wären, wenn die Anwälte die Versicherungsnehmer, ihre Mandanten, pflichtgemäß darüber aufgeklärt hätten, dass zwischenzeitlich mit dem BGH-Urteil feststand, dass ihr Anspruch verjährt war. Die Richter stellen fest, dass es keine grundsätzliche Pflicht gibt, keine aussichtslosen Prozesse zu führen. Aber dass der Anwalt sehr wohl verpflichtet ist, seine Mandanten über die Risiken zu belehren, die mit einer Klageerhebung verbunden sind und auch das ungefähre Ausmaß der Risiken abschätzen. Ist eine Klage praktisch aussichtslos, muss der Rechtsanwalt dies deutlich sagen und ggf. deutlich davon abraten, diese einzureichen.

Diese Pflicht endet nicht mit der Einleitung des Verfahrens. Vielmehr muss der Anwalt seinen Mandanten auch über tatsächliche oder rechtliche Veränderungen im Laufe des Prozesses aufklären, wenn diese seine Erfolgsaussichten verschlechtern, und ist wiederum möglicherweise verpflichtet, von einer Fortführung der Rechtsverfolgung abzuraten.

Und diese Pflicht besteht, das macht der BGH deutlich, unabhängig davon, ob der Mandant rechtsschutzversichert ist. Es ist der Mandant, der auf der Grundlage einer fundierten Beratung die Entscheidung treffen muss, ob er seinen Deckungsanspruch gegenüber dem Versicherer für die beabsichtigte Rechtsverfolgung einsetzen, also einen Rechtsstreit einleiten oder fortsetzen will.

Kausalität: bei Aussichtslosigkeit hilft auch keine Rechtsschutzversicherung

Auswirken kann sich eine Rechtsschutzversicherung aber bei der haftungsausfüllenden Kausalität. Grundsätzlich gilt - zu Lasten des Anwalts - die Vermutung, dass der Mandant, wäre er richtig belehrt worden, den Hinweisen des Anwalts gefolgt wäre, wenn eindeutig eine bestimmte tatsächliche Reaktion nahegelegen hätte. Hätte es mehrere sinnvolle Möglichkeiten gegeben, gilt die Vermutung nicht. Diesen Anscheinsbeweis zugunsten des Anspruchstellers kann der Anwalt durch den Nachweis von Tatsachen entkräften, die für ein atypisches Verhalten des Mandanten bei unterstellter pflichtgemäßer Beratung sprechen.

Hier kommt nun das Bestehen einer Rechtsschutzversicherung ins Spiel. Erfahrungsgemäß seien Mandanten, die nicht vom Kostenrisiko im Unterliegensfall bedroht sind, nämlich eher bereit, sich auch auf einen Prozess mit ungewissem oder zweifelhaftem Ausgang einzulassen, begründet der BGH. Deshalb greife der Anscheinsbeweis zu Lasten des Anwalts nicht, wenn der Mandant rechtsschutzversichert ist. Dann muss der Anspruchsteller anders beweisen, dass der Mandant sich beratungsgerecht verhalten hätte, wenn er ordnungsgemäß beraten worden wäre.

Doch im vom BGH entschiedenen Fall brachte auch das den beklagten Anwälten nichts. Der Senat stellt vielmehr klar, dass die für sie günstige Ausnahme vom Anscheinsbeweis nicht greift, wenn die (weitere) Rechtsverfolgung objektiv aussichtslos war. Dann reiche, so die Karlsruher Richter, auch eine bestandskräftige Deckungszusage nicht aus. Denn eine aussichtslose Rechtsverfolgung liege nicht im Interesse eines vernünftig urteilenden Mandanten, sondern diene “allein dem (Gebühren-)Interesse des Rechtsanwalts”, heißt es im Urteil. Dazu werde ein vernünftig urteilender Mensch den Deckungsanspruch gegen seine Rechtsschutzversicherung nicht einsetzen.

Allerdings seien an die Annahme der Aussichtslosigkeit in diesem Sinne hohe Anforderungen zu stellen, maßgeblich ist die Sicht ex ante. Aussichtslos in diesem Sinne könne ein Rechtsstreit sein, wenn eine streitentscheidende Rechtsfrage höchstrichterlich abschließend geklärt ist, erklärt der BGH. Regelmäßig also dann, wenn eine einschlägige höchstrichterliche Entscheidung ergangen ist. Allerdings könnten auch dann im Schrifttum geäußerte Bedenken, mit denen die Rechtsprechung sich noch nicht befasst hat, annehmen lassen, dass die Rechtsprechung noch einmal überdacht werde.

Für den entschiedenen Fall bedeutete das, dass bis zur Einlegung der Berufung, als es die BGH-Entscheidung zur fehlenden Verjährungshemmung durch den Güteantrag noch nicht gab, kein Beratungsfehler der Anwälte vorlag. Für alles, was danach kam, muss nun das OLG klären, ob die weitere Rechtsverfolgung in diesem Sinne aussichtslos war und wenn ja, ab wann.