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„Hält Migration für ein grundlegendes Übel“: BVerfG erklärt Gießener Verwaltungsrichter für befangen

Ein Asylsuchender durfte den Richter, der 2019 in einem aufsehenerregenden Urteil u.a. erklärt hatte, dass er „Migration tötet“ für eine Tatsache halte, für voreingenommen halten. Seinen Befangenheitsantrag abzulehnen, erklärt das BVerfG für willkürlich.

09.07.2021Rechtsprechung

Ein Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen, das im Jahr 2019 für viel mediale Aufmerksamkeit gesorgt hat, hat ein Nachspiel in Karlsruhe. Der Gießener Verwaltungsrichter hatte damals als Einzelrichter einer Klage der NPD stattgegeben, die sich gegen die Beseitigung ihres Wahlplakats mit dem Slogan „Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand jetzt!“ wehrte (VG Gießen, Urt. v. 09.08.2019, Az. 4 K 2279/19.GI).

Das Wahlplakat erfülle nicht den Tatbestand der Volksverhetzung, so das Urteil damals. Bei der Einwanderung von Flüchtlingen handele es sich tatsächlich um eine "Invasion". Der objektive Aussagegehalt von "Migration tötet" sei eine empirisch zu beweisende Tatsache, erklärte der Richter in den Gründen. Das Plakat weise auch nicht unzulässig darauf hin, dass wenn der deutsche Staat sein Gewaltmonopol nicht festige, chaotische Verhältnisse zu befürchten seien. Aber "sollten der deutsche Staat oder seine Behörden einmal in die Handlungsunfähigkeit abrutschen, griffe das Recht zum Widerstand aus Art. 20 Abs. 4 GG ohnehin". Der Richter war auch für Asylsachen zuständig.

Ein afghanischer Staatsangehöriger, der sich per Klage gegen die Ablehnung seines Asylantrags im September 2016 gestellter Asylantrag wehrt, lehnte den Richter als befangen ab. Die Kammer des VG Gießen wies jedoch sein Ablehnungsgesuch zurück, der Richter entschied daraufhin über seine Klage und bewilligte ihm, bei Klageabweisung im Übrigen, subsidiären Schutz. Der Afghane wandte sich aber das BVerfG, um sich gegen die Zurückweisung seines Ablehnungsgesuchs zu wehren.

„Dem Urteil gleichsam auf die Stirn geschrieben“

Mit Beschluss vom 1. Juli (Az. 2 BvR 890/20) bekam er dort Recht: Der Beschluss des VG Gießen verstoße gegen sein Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Satz 2 Grundgesetz, so die 1. Kammer des Zweiten Senats. Die Ablehnung des Befangenheitsantrags sei willkürlich gewesen: Dem Urteil stehe es „gleichsam auf die Stirn geschrieben, dass der Richter, der es abgefasst hat, Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält“, heißt es in der Mitteilung des BVerfG vom Freitag zu der Entscheidung.

Das BVerfG zitiert aus mehreren Passagen des Urteils aus Gießen, u.a. dahingehend, dass Einwanderung „naturgemäß eine Gefahr für kulturelle Werte an dem Ort dar[stellt], an dem die Einwanderung“ stattfindet, und den Verweis darauf, dass die bestehende „Gefahr für die deutsche Kultur und Rechtsordnung sowie menschliches Leben“ „nicht von der Hand zu weisen“ sei.

Es bezieht sich außerdem auf die „ausufernden Ausführungen“ des Richters dazu, dass die Wendung „Migration tötet“ eine empirisch beweisbare Tatsache sei: Der Richter hatte Einzelfälle von Asylsuchenden aufgeführt, die im Nachhinein wegen Mordes, anderer Tötungsdelikte oder sonstiger schwerer Straftaten verurteilt wurden. „Mit dieser Deutung geschichtlicher Abläufe und der aktuellen politischen Situation verengt das Verwaltungsgericht den weitergreifenden Begriff der Migration auf die Gruppe der Asylsuchenden und stellt aus dieser Gruppe die später mit schweren Straftaten straffällig gewordenen Personen als prägend nicht nur für die Gruppe der Asylsuchenden, sondern für den gesamten Bereich der Migration dar“, begründet das BVerfG seine Annahme, dass diese und weitere Passagen der Urteilsgründe offensichtlich geeignet seien, Misstrauen des Asylsuchenden gegen die Unparteilichkeit des Richters zu begründen.