BRAK fordert nachdrücklich Reform von § 345 StPO
Diskrepanz zwischen Urteilsabsetzungsfrist und Revisionsbegründungsfrist im Strafprozess muss dringend beseitigt werden
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat mit einer Initiativstellungnahme Unzulänglichkeiten im Strafverfahren, namentlich bei der Urteilsabsetzungs- und der Revisionsbegründungsfrist, kritisiert. Nach Ansicht der BRAK treffen zwei Probleme aufeinander, die sich gegenseitig potenzieren und zu extremen Diskrepanzen und letztlich zur Beschneidung von Rechtsmittelmöglichkeiten im Strafprozess führen.
Dies betrifft einerseits die nach oben hin nicht begrenzte Frist für die Urteilsabsetzung gem. § 275 Abs. 1 StPO. Andererseits bleibt es für die Begründung der Revision stets bei der starren Frist des § 345 Abs. 1 StPO von einem Monat.
Besonders plakativ lässt sich dieses Auseinanderfallen der Fristen am Beispiel des am 21. April 2020 ergangenen Urteils des OLG München in dem kürzlich durch die Medien gegangenen Verfahren erkennen. Das 3.025 Seiten lange Urteil wurde bereits am 11. Juli 2018 mündlich verkündet, jedoch erst jetzt – unter beinahe punktgenauer Wahrung der am 22.04.2020 ablaufenden Frist von 93 Wochen – abgesetzt.
Hieraus ergeben sich nach Auffassung der BRAK mehrere praktische Probleme, die durch eine Reform vermieden werden könnten:
Bei sehr umfangreichen Verfahren verlängert sich die Absetzungsfrist für das Urteil gem. § 275 Abs. 1 Satz 1 bis 3 StPO. Eine gesetzliche absolute Obergrenze existiert nicht.
Während der Wartezeit auf die Urteilsbegründung befinden sich Beschuldigte teilweise noch in Untersuchungshaft und müssen darauf warten, dass die für sie eingelegte Revision gegen das Urteil begründet werden kann.
Der Verteidigung bleibt ab Urteilszustellung ein Monat Zeit, um das ggf. mehrere tausend Seiten umfassende Urteil zu prüfen und die Revision zu begründen. Neben der Urteilsbegründung muss den Verteidigern dazu auch das Hauptverhandlungsprotokoll erst noch zugestellt werden.
Die BRAK ist daher der Auffassung, dass die Absetzungsfrist nach oben hin zu begrenzen ist. Zudem ist die Frist zur Begründung der Revision an die Absetzungsfrist anzugleichen und darf erst dann zu laufen beginnen, wenn der Verteidigung auch das Protokoll der Hauptverhandlung zugegangen ist.
Eine Begrenzung der Urteilsabsetzungsfrist durch eine absolute Obergrenze ist – bei grundsätzlicher Beibehaltung der Staffelung des § 275 Abs. 1 StPO – auch bei sehr umfangreichen Verfahren erforderlich, um dem in Strafverfahren geltenden Beschleunigungsgrundsatz gerecht zu werden. Das folgt aufgrund der sich aus der Verfahrensverzögerung für den Angeklagten ergebenden Belastungen aus dem fair-trial-Grundsatz, insbesondere – aber nicht nur – in Haftsachen. Eine Absetzungsfrist von fast zwei Jahren bei sehr umfangreichen Verfahren wird auch der Wahrheitsfindung nicht mehr gerecht.
Damit einhergehend muss auch die Revisionsbegründungsfrist, die ohne Blick auf das konkrete Verfahren stets einen Monat ab Zustellung beträgt, angepasst werden, um die Verteidigung in umfangreichen Verfahren nicht zu beschränken. Die BRAK hat bezüglich dieser starren Monatsfrist erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, die in umfangreichen Verfahren (im Beispiel Urteil mit 3.025 Seiten) zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 GG und des Gebots, ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung zu haben (Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK), führen kann.
Die BRAK ruft den Gesetzgeber daher auf, die Vorschrift des § 345 StPO zu reformieren, indem die Frist zur Revisionsbegründung vergleichbar der Regelung des § 275 Abs. 1 StPO unter Berücksichtigung des Umfangs des Verfahrens gestaffelt wird. Es ist nicht einzusehen, warum der Gesetzgeber das Bedürfnis der Fristverlängerung bei der Urteilsabsetzung großzügig und nach oben hin unbegrenzt anerkennt, im Hinblick auf die Revisionsbegründung aber vollständig negiert.
Zudem fordert die BRAK, dass die Revisionsbegründungsfrist erst dann zu laufen beginnt, wenn dem Rechtsmittelführer das Urteil nebst Hauptverhandlungs-protokoll zugestellt worden ist. Da alle Verfahrensrügen innerhalb der Revisionsbegründungsfrist zu begründen und dabei die den Mangel begründenden Tatsachen anzugeben sind, ist es sachgerecht, den Fristbeginn an die Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls zu koppeln, aus dem sich mit der Beweiskraft der §§ 273 f. StPO der Gang der tatrichterlichen Hauptverhandlung ergibt.
„Die aufgezeigten Diskrepanzen haben wir bereits mehrfach kritisiert. Es ist aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten dringend erforderlich, hier schnellstmöglich nachzubessern“, meint Ulrike Paul, Vizepräsidentin der Bundesrechtsanwalts-kammer und Fachanwältin für Strafrecht. „Die aktuelle gesetzliche Regelung beschneidet Beschuldigtenrechte und nimmt der Verteidigung bei besonders umfangreichen Verfahren die Möglichkeit, Rechtsmittel umfassend vorzubereiten. Ich halte es nicht für sachgerecht, die Fristen für das Gericht ohne Obergrenze zu verlängern, für die Verteidigung hingegen nicht.“