Anwaltshaftung

Anwälte müssen BGH-Datenbank zu ihrer Spezialisierung kennen

Wer Mandanten nicht über Rechtsprechungsänderungen informiert, macht sich haftbar. Dazu müsse man auch die BGH-Datenbank kennen, so das OLG Jena.

26.02.2024Rechtsprechung

Ein auf das betroffene Rechtsgebiet spezialisierter Rechtsanwalt muss die aktuelle einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung zeitnah nach deren Veröffentlichung kennen und sich auch während eines laufenden Verfahrens über Änderungen informieren. Dazu gehöre auch die online verfügbare Entscheidungsdatenbank des Bundesgerichtshofs (BGH). Hier müsse der spezialisierte Anwalt zumindest die Leitsatzentscheidungen auf seinem Gebiet zeitnah zur Kenntnis nehmen. Dies hat das Oberlandesgericht (OLG) Jena entschieden (Urt. v. 26.01.2024, Az. 9 U 364/18).

In dem Fall ging es um einen Anwaltshaftungsprozess anlässlich eines Kapitalanlageverfahrens. Der BGH hatte am 18. Juni 2015 zu der zentralen Rechtsfrage in dem damaligen Verfahren ein erstes Grundsatzurteil gefällt und kurze Zeit darauf weitere. Der – nunmehr beklagte - Anwalt in dem ab 2013 laufenden Verfahren hatte seinem Mandanten trotz dieser Änderung der Rechtsprechung bis zur geplanten mündlichen Verhandlung im Jahr 2016 nicht zu einer Klagerücknahme geraten. Und das, so das OLG Jena, obwohl mit dieser neuen höchstrichterlichen Entscheidung das ursprüngliche Begehren objektiv aussichtslos geworden sei. Erschwerend kam hinzu, dass der Anwalt zu diesem Thema massenhaft Verfahren führte. Ihm hätte bekannt gewesen sein müssen, dass beim BGH zahlreiche Verfahren zu seinem Thema anhängig waren, so das OLG Jena.  

OLG Jena: Spezialisierte Anwälte müssen sich online informieren

Die Jenaer Richterinnen und Richter führten in ihrem Urteil zunächst Grundlegendes zur Pflicht von Anwälten auf, immer „up to date“ in ihren Spezialgebieten zu bleiben: Es sei ständige Rechtsprechung, dass ein Rechtsanwalt sich über die höchstrichterliche Rechtsprechung anhand von amtlichen Sammlungen, einschlägigen Fachzeitschriften, Kommentaren, Lehrbüchern und elektronischen Datenbanken zu informieren habe. Der BGH habe im Jahr 2010 noch bewusst offengelassen, ob angesichts der schnell voranschreitenden Digitalisierung in Zukunft strengere Anforderungen an die Kenntnis höchstrichterlicher Entscheidungen zu stellen sind.

Dies sei vorliegend der Fall: Inzwischen müsse ein spezialisierter Anwalt auch die online verfügbare Entscheidungsdatenbank des BGH kennen. Er müsse zwar nicht alle Entscheidungen durchsehen. Wohl aber müsse er die „Leitsatzentscheidungen“ für seinen konkreten Tätigkeitsbereich „zeitnah zur Kenntnis zu nehmen“. Für den Fall, dass der Tätigkeitsbereich des Rechtsanwalts auf einen eng zugeschnittenen Rechtsbereich begrenzt ist, müsse er auch über den Tätigkeitsbereich hinausgehende Entscheidungen des zuständigen BGH-Senats lesen. Dies insbesondere, wenn er massenhaft Verfahren zu vergleichbaren Sachverhalts- und Rechtsfragenkonstellationen betreibe.

Kurze Karenzzeit

In welchen Zeitabständen ein Rechtsanwalt diese Quellen zu durchsuchen hat, sei dabei abhängig von einem individuellen „Karenzzeitraum“. Gemeint sei ein realistischer Toleranzrahmen, um die neue Rechtsprechung zu erfassen. Hier komme es auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an. Die grundsätzliche Karenzzeit von vier bis sechs Wochen könne unter Umständen auch kürzer zu bemessen sein. Jedenfalls wenn es um eine für das Mandat wichtige, aber höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärte Rechtsfrage gehe.

Im konkreten Fall hieß das: Spätestens Ende Juli, also ca. 6 Wochen nach dem Urteil hätte der Anwalt das Urteil aus der Datenbank des BGH herunterladen müssen. Auf die Veröffentlichung in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) im August 2015 hätte er nicht mehr warten dürfen. Das erste Urteil hätte zudem Anlass gegeben, die weitere Entwicklung der Rechtsprechung engmaschig zu verfolgen. Da in der Zeitspanne bis Anfang September 2015 gleich mehrere Entscheidungen des BGH ergingen, hätte sich der Anwalt zwar etwas Zeit nehmen dürfen, um deren Bedeutung zu analysieren. Damit habe sich die Karenzzeit im Hinblick auf diese Urteile entsprechend verlängert. Die letzte Entscheidung datierte vom 03.09.2015. Eine Woche nach der Veröffentlichung des Urteils am 22.09.2015 hätte der Anwalt dieses Urteil kennen müssen. Spätestens am 30.09.2015 hätte der Anwalt davon ausgehen müssen, dass das Verfahren ohne Aussicht auf Erfolg war.

Verfahren trotz Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde „aussichtslos“

Der Tatsache, dass das Verfahren aussichtlos geworden war, stehe hier auch nicht entgegen, dass sich der BGH noch nicht ausdrücklich mit der Vereinbarkeit seiner Entscheidung mit dem Unionsrecht auseinandergesetzt hatte. Der BGH habe - wie jedes nationale Gericht – vorrangiges EU-Recht zu beachten. Es sei daher davon auszugehen, dass der BGH bei seinem Urteil das EU-Recht bereits berücksichtigt habe. Jedenfalls habe der BGH sich noch vor der mündlichen Verhandlung in diesem Fall ausdrücklich zum Unionsrecht positioniert.

Auch die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine letztinstanzliche Entscheidung rechtfertige die Fortführung eines nunmehr aussichtslosen Rechtsstreits grundsätzlich nicht. Eine solche sei schließlich kein gewöhnliches Rechtsmittel, sondern ein außerordentlicher Rechtsbehelf bei Verstoß gegen Verfassungsrecht.

Die Revision wurde nicht zugelassen. Weder habe der Fall grundsätzliche Bedeutung noch sei diese zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Insbesondere seien die maßgeblichen Rechtsfragen geklärt. Die Feststellung der Frage, wann ein Verfahren aussichtslos sei, habe der BGH ausdrücklich den Tatrichter überlassen.