Assistierter Suizid

Nicht jedes aktive Tun ist Tötung auf Verlangen

Der BGH hat eine Frau freigesprochen, die ihrem Mann eine tödliche Dosis Insulin gespritzt hat. Sie habe nur straflose Beihilfe zum Suizid geleistet.

13.08.2022Rechtsprechung

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit am 11. August 2022 veröffentlichten Beschluss entschieden, dass auch jemand, der einem anderen aktiv beim Suizid hilft, sich nicht immer der Tötung auf Verlangen nach § 216 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar macht. Vielmehr erfordere die Abgrenzung der straflosen Beihilfe vom Suizid eine „normative Betrachtung“ anstelle einer naturalistischen Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Tun, so der Senat. Auch eine Strafbarkeit wegen Unterlassens komme mangels Einstandspflicht für die Abwendung des Todes nicht in Betracht, wenn jemand zuvor in freiem Willen seinen Sterbewunsch gefasst hat.

Schließlich neigt der BGH laut „obiter dictum“ in dem Beschluss dazu, § 216 StGB verfassungskonform auszulegen. Danach müssten – entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung nach § 217 StGB a.F.  – auch solche Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen jemand aus physischen Gründen an der Selbsttötung ohne fremde Hilfe gehindert ist und sich alternativ nicht freiwillig selbst das Leben nehmen könnte (Beschl. v. 28.06.2022, Az. 6 StR 68/21).

Frau spritze ihrem Mann tödliche Dosis Insulin – und wurde verurteilt

In dem Fall, über den der BGH zu entscheiden hatte, hatte die Ehefrau, eine ehemalige Krankenschwester, ihrem schwerkranken Mann sechs Dosen Insulin gespritzt, weil dieser aufgrund seiner Krankheit nicht mehr dazu in der Lage war, dies selbst zu tun. Das Insulin erwies sich zwar letztlich als die Todesursache durch Unterzuckerung. Doch auch ohne dieses Zutun wäre der Mann etwas später gestorben, weil er bereits zuvor alle im Haus verfügbaren Medikamente eingenommen hatte.

Seit einer Lendenwirbelfraktur und einem Bandscheibenvorfall hatte der Mann an einem chronischen Schmerzsyndrom gelitten, darüber hinaus unter anderem an Diabetes, Arthrose in den Händen, starkem Übergewicht sowie an verschiedenen weiteren physischen, psychosomatischen und psychischen Erkrankungen. Seit 2016 war er bettlägerig, seine Frau hatte ihn gepflegt. Irgendwann halfen auch hochdosierte Medikamente nicht mehr.

Seit 2016 äußerte er immer wieder den Wunsch, zu sterben. Die Inanspruchnahme eines Sterbehilfevereins kam durch das damals geltende Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe in Deutschland nicht in Betracht. Als es am 7. August 2019 für ihn unerträglich wurde, schrieb er auf Bitten seiner Frau noch einen Abschiedsbrief, in dem er beteuerte, ihr verboten zu haben, einen Arzt zu rufen. Er nahm selbst die Medikamente, musste seine Frau aber um die Insulinspritzen bitten. Danach vergewisserte er sich bei ihr noch einmal, ob dies auch alle vorrätigen Spritzen gewesen seien, denn er wolle nicht „als Zombie" überleben. Er schlief ein und seine Frau kontrollierte regelmäßig die Lebenszeichen. In der Nacht stellte sie schließlich seinen Tod fest.

Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Selbstmord?

Die Frage war nun: Hat sie sich wegen Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB strafbar gemacht oder ist ihr Tun als strafbare Beihilfe zum Suizid zu werten?

Nach ständiger Rechtsprechung ist Täter einer Tötung auf Verlangen, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn das „Opfer“ selbst sterben will. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Solange der Sterbewillige also noch die freie Wahl hat, sich anders zu entscheiden, nachdem der andere seinen Tatbeitrag geleistet hat, liegt nur eine straflose Beihilfe zur Selbsttötung vor.

Das Landgericht (LG) Stendal hatte die ehemalige Krankenschwester nach diesen Grundsätzen wegen Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt (Urt. v. 10.11.2020, Az. 501 KLs 6/20 301 Js 12706/19). Weil sie aktiv handelnd die letztlich tödlichen Insulinspritzen gesetzt hatte, könne ihr Zutun nicht als straflose Beihilfe zum Suizid gewertet werden. Schließlich habe ihr Mann nach den Spritzen bis zum Eintritt des Todes nicht mehr die Möglichkeit gehabt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sein Leben dadurch in ihre Hand gelegt.

Keine naturalistische Unterscheidung von aktivem und passivem Tun

Der BGH wertete das Geschehen in seiner Grundsatzentscheidung nun anders. Die Frau habe "sich unter keinem Gesichtspunkt strafbar gemacht". Sie habe lediglich straflose Beihilfe zum Suizid ihres Mannes geleistet. Daran ändere es nichts, dass sie aktiv die Spritzen gesetzt habe. Dabei konkretisierte der BGH, wie genau die „Beherrschung des Tatgeschehens“ zu verstehen sei: Eine naturalistische Unterscheidung von aktivem und passivem Tun sei nicht sinnvoll. Vielmehr müsse die Abgrenzung normativ vorgenommen werden.

In diesem Fall bedeute diese Unterscheidung, dass der Ehemann das zum Tode führende Geschehen beherrscht habe. Bei wertender Betrachtung hätten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt gebildet, über dessen Ausführung allein er bestimmt habe. Danach sei es nur Zufall gewesen, dass das Insulin früher zum Tod geführt habe. Bereits die Einnahme der Tabletten sollte allein tödlich sein. Das Insulin habe nur sicherstellen sollen, dass er nicht schwer geschädigt überleben würde.

Außerdem habe der Mann auch nach der Injektion das Geschehen noch beherrscht, weil er trotz Bewusstsein keine Gegenmaßnahmen einleitete. Dieser Bewertung stehe die BGH-Entscheidung im sogenannten Gisela-Fall (Urt. v. 14.08.1963, Az. 2 StR 181/63) nicht entgegen. Beide Sachverhalte unterschieden sich. Damals hatten sich zwei Sterbewillige in ein Auto gesetzt, einer hatte durchgehend das Gaspedal gedrückt, bis die andere zunächst bewusstlos wurde und dann starb. Er überlebte und wurde nach § 216 StGB verurteilt. Denn nach Eintritt ihrer Bewusstlosigkeit hatte er weiterhin das Gaspedal getreten und dadurch die Tatherrschaft gehabt. Im aktuellen Fall aber hatte die Frau alles getan, bevor ihr Mann bewusstlos wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte er noch den Rettungsdienst rufen können, verzichtete darauf aber. Stattdessen ließ er sich versichern, dass sie ihm „alle vorrätigen Spritzen“ gegeben hatte.

Keine Strafbarkeit durch Unterlassen

Eine Strafbarkeit wegen Unterlassen scheide ebenfalls aus, obwohl die Frau auch nach Eintritt seiner Bewusstlosigkeit keinen Rettungswagen gerufen hatte. Eine Garantenpflicht habe sich weder aus der bestehenden Ehe noch aus Ingerenz ergeben, so der 6. Strafsenat.

Zwar habe sie als Ehefrau eine Garantenstellung - daraus ergebe sich aber keine Pflicht zur Abwendung seines Todes. Schließlich hatte ihr Mann „ohne Wissens- und Verantwortungsdefizit“ frei den Willen gefasst, zu sterben. Dies habe er dadurch bekräftigt, dass er ihr verboten hatte, ärztliche Hilfe zu holen. Dadurch sei ihre grundlegende Einstandspflicht für sein Leben situationsbezogen suspendiert worden, so der BGH. 

Auch eine Garantenstellung aus ihrem vorangegangenen Tun – dem Verabreichen der Spritzen – scheide aus. Dagegen stünden die freiverantwortlichen Entscheidungen des Sterbewilligen, die Medikamente einzunehmen und die durch das Spritzen des Insulins in Gang gesetzte Ursachenreihe nicht zu unterbrechen.

Verfassungskonforme Auslegung von § 216 StGB nötig?

Obwohl es in diesem Fall nicht mehr darauf ankam, äußerte sich der BGH in einem obiter dictum zur Verfassungsmäßigkeit von § 216 Abs. 1 StGB. Er „neige zu der Auffassung“, dass § 216 Abs. 1 StGB einer verfassungskonformen Auslegung bedürfe. Danach sollten jedenfalls diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre freie Entscheidung selbst umzusetzen und sie auf andere angewiesen ist.

Die Ansicht des BGH basiert auf der Rechtsprechung des BVerfG, das 2020 entschieden hatte, dass aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf selbstbestimmtes Sterben erwächst (BVerfG, Urt. v. 26.02.2020, Az. 2 BvR 2347/15; 2 BvR 651/16; 2 BvR 1261/16). Dieses umfasse auch, bei der Umsetzung der Selbsttötung auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen – insbesondere, wenn man selbst aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr dazu in der Lage ist. Daher sei § 217, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung pauschal unter Strafe stellte, nichtig. Aktuell arbeitet der Gesetzgeber deshalb an einer Reform.

Der BGH ist der Ansicht, die vom BVerfG in Bezug auf § 217 Abs. 1 StGB entwickelten Grundsätze seien wohl auf § 216 Abs. 1 StGB übertragbar, weil diese Vorschrift in vergleichbarer Weise in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben eingreife.