Aufstiftung

BGH hebt Verurteilung wegen Tatprovokation auf

Es bewegt sich etwas in Sachen Agent provocateur: Wenn erst der Scheinkauf eines verdeckten Ermittlers aus kleinen Haien große Fische gemacht hat, liegt ein Verfahrenshindernis vor, stellte der BGH in der vergangenen Woche klar. Und auch die Ampel-Koalition will sich der Tatprovokation widmen.

20.12.2021Rechtsprechung

BGH hebt Verurteilung wegen Tatprovokation auf

Im Fall zweier Kleindealer hat der Bundesgerichtshof (BGH) in der vergangenen Woche seine Rechtsprechung zur Tatprovokation nach eigenen Angaben „präzisiert“. Mit der Entscheidung, deren Gründe noch nicht vorliegen, hat der 1. Strafsenat ein Urteil zu Lasten eines Kleindealers teilweise aufgehoben und die Sache an das Landgericht (LG) zurückverwiesen. Die Richter in Freiburg sollen nun klären, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Beschuldigte schon vor der ihm konkret zur Last gelegten Tat in Betäubungsmittelgeschäfte verwickelt war und inwieweit der verdeckte Ermittler physischen oder psychischen Druck auf ihn aufgebaut hat. Kämen die Kammer zu dem Ergebnis, dass eine nach den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs rechtsstaatswidrige Tatprovokation vorlag, würde dies, so der 1. Strafsenat nun deutlich, ein Verfahrenshindernis begründen (Urt. v. 16.12.2021, Az. 1 StR 197/21).

Es ist nicht die erste Entscheidung, mit der der BGH ein Verfahrenshindernis annimmt, wenn ein Täter von einem vom Staat eingesetzten Lockspitzel zur Tat erst provoziert wird. Im Jahr 2015 hatte der 2. Strafsenat ein Verfahren deshalb eingestellt, anstatt, wie es der bisherigen deutschen Rechtsprechung entsprach, im Rahmen der sog. Strafzumessungslösung nur die Strafe abzumildern (Urt. v. 10.06.2015, Az. 2 StR 97/14).

Doch die Entscheidung setzte sich nicht durch, es gab keine klare Positionierung anderer BGH-Senate, die Instanzgerichte wandten weiterhin die Strafzumessungslösung an und beriefen sich dabei auch auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, ebenfalls aus dem Jahr 2015, das die Strafzumessungslösung durchgewunken hatte. Eine gesetzliche Regelung erfolgte bis heute nicht, obwohl unter anderem die BRAK das im Jahr 2020 forderte, als Deutschland zum mittlerweile zweiten Mal vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wurde.

Strafsenat: Scheinkäufe nur in der Größenordnung, für die es einen Verdacht gibt

Die Bundesrepublik musste Schadensersatz für zwei Verurteilungen zahlen, die ergangen waren, obwohl ihnen eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vorangegangen war (EGMR, Urt. v. 15.10.2020, Az. 40495/15, 40913/15 und 37273/15). Auf diese europäische Rechtsprechung stützt der 1. Strafsenat nun offenbar sein Urteil im Fall der beiden Dealer, das LG muss die Tatsachen rund um die sog. Aufstiftung jetzt erneut prüfen, also konkret aufklären, in welchem Umfang die beiden Männer vor dem Deal, für den sie nun verurteilt wurden, mit Drogen handelten.

Der Angeklagte hatte gemeinsam mit einem weiteren Angeklagten, der gegen seine Verurteilung nicht Revision eingelegt hatte, von Oktober bis November 2019 mit Kleinmengen an Cannabisprodukten und Kokain gedealt. Im März 2020 nahm ein verdeckter Ermittler Kontakt zu ihm auf, kaufte 10 Gramm Marihuana und fragte, ob es auch möglich sei, eine „größere Menge“ zu erwerben. Danach kaufte der verdeckte Ermittler mehrfach kleinere Mengen bei dem Angeklagten, fragte aber weiterhin nach größeren, schließlich konkret nach einer Lieferung von drei Kilogramm Marihuana und 50 bis 100 Gramm Kokain. Die Angeklagten waren auf solche Mengen offenbar gar nicht eingestellt, ihre bisherigen Lieferanten konnten diese nicht liefern, sie kannte nicht einmal die üblichen Preise. Am Ende gelang es ihnen jedoch, die nachgefragten Betäubungsmittel über einen weiteren Angeklagten zu beschaffen, bei der Übergabe an den verdeckten Ermittler griff die Polizei zu.

Das LG hatte den Revision einlegenden Angeklagten zu drei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt, die Tatprovokation berücksichtigte die Kammer strafmildernd. Der BGH hat nun beide Urteile aufgehoben, also seine Entscheidung auch auf den Mitangeklagten erstreckt, obwohl der – nach Medienangaben ein Pakistani, der zwischenzeitlich abgeschoben worden ist - gar nicht in Revision gegangen war. Der Vorsitzende des 1. Strafsenats, Rolf Raum, sagte bei der Urteilsbegründung am vergangenen Donnerstag nach Medienberichten, Scheinkäufe von verdeckten Ermittlern müssten sich grundsätzlich in der Größenordnung bewegen, für die bereits ein polizeilicher Verdacht bestand.

In der nun beginnenden Legislaturperiode könnte eine gesetzliche Regelung näher rücken. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition findet sich der Passus „Unter anderem regeln wir […] das grundsätzliche Verbot der Tatprovokation“.