Scheinselbstständigkeit

BGH konkretisiert Kriterien: Wann sind Anwälte freie Mitarbeiter?

Wann sind Anwältinnen und Anwälte in Kanzleien tatsächlich „frei“ und wann scheinselbstständig? Der BGH stellt Kriterien für die Abgrenzung auf.

07.06.2023Rechtsprechung

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem Strafverfahren die Gelegenheit genutzt, die Abgrenzung zwischen echter freier Mitarbeit und Scheinselbstständigkeit bei Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten zu konkretisieren: Es komme auf das Gesamtbild der Arbeitsleistung an. Wenn wegen der Eigenart der Anwaltstätigkeit die bekannten Abgrenzungskriterien Weisungsgebundenheit und Eingliederung an Trennschärfe und Aussagekraft verlören, sei vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen (Urt. v. 08.03.2023, Az. 1 StR 188/22).

In dem konkreten Fall hatte ein Rechtsanwalt zwischen 2013 und 2017 zwölf Anwälte laut Vertrag als „freie Mitarbeiter“ beschäftigt. Zwar sollten sie ihre Sozialabgaben selbst abführen. Auch konnten sie theoretisch eigenes Personal beschäftigen und selbst werben - doch diese Möglichkeiten bedurften aufgrund einer Zusatzvereinbarung seiner Zustimmung. Zudem waren die Anwälte weisungsgebunden hinsichtlich der zu bearbeitenden Fälle, Ort und Zeit der Tätigkeit. Am unternehmerischen Risiko und den Kosten für die Kanzleiinfrastruktur wurden sie nicht beteiligt – stattdessen erhielten sie ein festes Jahreshonorar, das sie in Teilbeträgen abrufen konnten.

Das Landgericht (LG) Traunstein hat den Anwalt deshalb wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266a Strafgesetzbuch (StGB) zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung und daneben zu einer Geldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 200 Euro verurteilt. Zudem wurde die Einziehung der Taterträge i.H.v. rund 119.000 Euro angeordnet.

BGH konkretisiert Kriterien für Scheinselbstständigkeit bei Rechtsanwälten

Der BGH gab dem Gericht zunächst inhaltlich Recht und ordnete die Anwälte ebenfalls als Scheinselbstständige ein, sodass der Tatbestand des § 266a StGB erfüllt sei. Dabei nutzte er die Gelegenheit, um die von der Sozialgerichtsbarkeit entwickelte Rechtsprechung zur Abgrenzung von tatsächlicher freier Mitarbeit in Bezug auf die Anwaltschaft zu konkretisieren:

Nach der allgemeinen Rechtsprechung seien erste Anhaltspunkte für Scheinselbstständigkeit die Weisungsgebundenheit hinsichtlich Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung, außerdem eine Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation sowie eine persönliche Abhängigkeit. Demgegenüber sei eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, eine eigene Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Entscheidend sei dabei eine Gesamtbetrachtung der tatsächlichen „gelebten Beziehung“ und nicht der Vertrag.

Für Rechtsanwältinnen und –anwälte ergebe sich für diese Abgrenzung nichts wesentlich Anderes. Zwar sei diese Berufsgruppe allein schon deshalb weniger von menschlichen Weisungen abhängig, weil der Arbeitsablauf vielmehr durch Sachzwänge zeitlich und örtlich bestimmt werde. Gleiches gelte für das Kriterium der Eingliederung, weil auch freie Mitarbeiter sich der sachlichen und personellen Ausstattung der Kanzlei bedienen können müssten. Wenn aber die Weisungen und die Eingliederung deutlich über diese Sachzwänge hinausgingen, könne dies bereits ein deutliches Zeichen für eine abhängige Beschäftigung sein.

Soweit aber die Kriterien der Weisungsgebundenheit und der Eingliederung im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlören, müsse im Rahmen der notwendigen Gesamtbetrachtung den übrigen Merkmalen mehr Gewicht beigemessen werden. In diesen Fällen sei vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen. Insoweit sei vor allem entscheidend, ob die Tätigkeit mit einem - gegebenenfalls pauschalierten - Verlustrisiko belastet sei und deshalb einer Gewinnbeteiligung gleichkomme oder ob sie lediglich als Gegenleistung für geschuldete Arbeitsleistung anzusehen sei.

Im konkreten Fall sprach die Tätigkeit der Anwälte laut BGH nach all diesen Kriterien in der Gesamtbetrachtung für eine Scheinselbstständigkeit: Das Jahresgehalt sei eine Gegenleistung für die gesamte Arbeitskraft gewesen. Die Tatsache, dass jegliche eigenständige Beschäftigung von Mitarbeitenden oder Werbung von der Zustimmung des Kanzleiinhabers abhängig gewesen seien, hebele diese vermeintlichen Freiheiten wieder aus. Der BGH sah außerdem, dass die Anwälte sowohl erhöht weisungsgebunden als auch eine starke eingegliedert waren. Für eine Scheinselbstständigkeit sprächen auch das geringe unternehmerische Risiko bei festem Gehalt sowie die fehlende Beteiligung an den Kosten für die Kanzleiinfrastruktur. Zwar würden – anders als es das LG sah - allein die feste Eingliederung in das Büro ohne Kostenbeteiligung und die Zuweisung von Akten für sich genommen nicht ausreichen, um eine Scheinselbstständigkeit anzunehmen; im Gesamtkontext sei die Einschätzung der Vorinstanz aber zutreffend gewesen.

LG muss erneut über Rechtsfolgen entscheiden

Die vom Anwalt ausgezahlten Gehälter seien deshalb nur als Nettovergütung anzusehen. Zusätzlich müssten darauf nun Sozialabgaben abgeführt werden. Hierzu stellte der BGH fest, dass Beitragszahlungen der scheinselbstständigen Anwälte – und generell die von Schwarzarbeitenden und illegal Beschäftigten - nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit des § 266a StGB entfallen ließen. Sie seien vielmehr erst auf der Ebene der Strafzumessung zu berücksichtigen.

Allerdings hob der BGH die Revision sowohl des Angeklagten als auch der Staatsanwaltschaft die Verurteilung auf der Rechtsfolgenseite auf. Die Schadenssumme für die Einziehung sei nicht korrekt berechnet worden. Zudem weist der BGH darauf hin, das Tatgericht solle noch einmal überprüfen, ob neben der Freiheitsstrafe und Einziehung noch eine zusätzliche Geldstrafe gem. § 41 StGB sinnvoll sei.