Wiederaufnahmegesetz

BVerfG lässt freigesprochenen Verdächtigen vorläufig frei

Der 1982 freigesprochene Verdächtige im Mordfall „Frederike“ kommt aus der U-Haft. Die Aussichten seiner Verfassungsbeschwerde sind offen.

18.07.2022Rechtsprechung

Ismet H. hat vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zumindest teilweise gewonnen, die Karlsruher Richter setzten einen Untersuchungshaftbefehl des Landgerichts (LG) Verden gegen ihn außer Kraft. Der Beschuldigte, den die Staatsanwaltschaft erneut beschuldigt, im Jahr 1981 die damals 17-jährige Schülerin Frederike von Möhlmann ermordet zu haben, darf allerdings die Stadt nicht verlassen, muss seine Ausweispapiere abgeben und sich zweimal wöchentlich bei den Behörden melden. Das LG kann weitere Maßnahmen anordnen. Die Entscheidung (Beschl. v. 14.07.2022, Az. 2 BvR 900/22) erging mit 5:3 Stimmen. Und der Senat weist deutlich darauf hin, dass hier kein normaler U-Haft-Fall vorliege.

Damit geht der Rechtsstreit um eines der wohl umstrittensten Gesetze der vergangenen Jahre in die nächste Runde. Ismet H. sitzt aufgrund des sog. Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit in Haft, das am 20. Dezember 2021 in Kraft trat. § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO) erlaubt seitdem die Wiederaufnahme eines rechtskräftigen Strafverfahrens auch nach einem Freispruch, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches) (…) verurteilt wird“. Sofort nach Inkrafttreten der Vorschriften nahm die Staatsanwaltschaft den 1983 rechtskräftig vom Vorwurf des Mordes an Frederike von Möhlmann freigesprochenen Ismet H. wieder in U-Haft und erhob erneut Anklage wegen Mordes. Sie stützt sich dabei auf ein DNA-Gutachten aus dem Jahr 2012: Die Untersuchung von Sekretanhaftungen an Slip der Getöteten ergab, dass eine Spermaspur von dem Beschuldigten stammen könnte.

Während das LG Verden den beantragten Haftbefehl sofort erließ und auch das Oberlandesgericht Celle diesen aufrecht erhielt und dabei die Neuregelung für verfassungsgemäß erklärte, ist das BVerfG sich dessen noch nicht sicher.

Staat muss Restrisiko hinnehmen, weil das gesamte Verfahren verfassungswidrig sein könnte

Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde von Ismet H. seien völlig offen, so die Richterinnen und Richter, die deshalb für die Prüfung im einstweiligen Rechtsschutz die übliche Folgenabwägung vornahmen: Wäre es schlimmer, wenn der Beschuldigte aus der U-Haft entlassen würde und seine Verfassungsbeschwerde sich nachher als unbegründet herausstellen würde oder aber, wenn er – im Zweifel bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem LG Verden – in U-Haft bliebe, das BVerfG später aber feststellen würde, dass § 362 Nr. 5 StPO verfassungswidrig, das gesamte Verfahren also unzulässig war?

Das BVerfG hat sich für Letzteres entschieden, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen durch die Auflagen für den Beschuldigten. Wenn Ismet H. mit seiner Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Verbots der Doppelbestrafung in Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) Erfolg hätte, wäre die erlittene Untersuchungshaft nicht mehr wiedergutzumachen, so der Zweite Senat: „Die Untersuchungshaft stellt einen besonders intensiven Grundrechtseingriff dar und ist zudem nachträglich nicht mehr korrigierbar“, heißt es in der Mitteilung aus Karlsruhe vom Samstag.

Das BVerfG schätzt auch die Folgen einer Entlassung aus der U-Haft als gravierend ein, wenn sich im Hauptsacheverfahren später herausstellen würde, dass die neue Vorschrift verfassungsgemäß und die Strafverfolgung von Ismet H. damit zulässig ist. Der Senat berücksichtigt neben dem Interesse des Staats an der Strafverfolgung auch das öffentliche Interesse an der Wiederaufnahme und einem anschließenden Strafverfahren.

Dennoch hat die Mehrheit im Senat sich für die vorläufige Entlassung von Ismet H. ausgesprochen und will das Restrisiko hinnehmen, dass er sich dem Strafverfahren trotz der angeordneten Auflagen entzieht. Das begründen die Richterinnen und Richter u.a. damit, dass hier kein „normaler“ U-Haft-Fall vorliege: Es könnte ja nicht nur wie in jedem Ermittlungsverfahren sein, dass der Verdacht gegen Ismet H. sich nicht weiter erhärtet. Das gesamte Verfahren gegen ihn könnte sich vielmehr als unzulässig herausstellen, wenn § 362 Nr. 5 StPO verfassungswidrig wäre. Deshalb bewertet die Mehrheit der Richterinnen und Richter den grundrechtlichen Schutz aus Art. 103 Abs. 3, Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG in diesem Fall höher als das Strafverfolgungsinteresse.