BGH zur Berufung

Gericht muss alle Mittel zur Prüfung der Fristwahrung ausschöpfen

Ein Gericht darf eine Berufung erst wegen Fristablaufs abweisen, wenn es alle erschließbaren Erkenntnisse zur Aufklärung ausgeschöpft hat, so der BGH.

13.09.2022Rechtsprechung

Ein Berufungsgericht darf ein Rechtsmittel erst dann wegen Fristablaufs abweisen, wenn es zuvor von Amts wegen geprüft und dabei alle erschließbaren Erkenntnisse ausgeschöpft hat, ob die Frist zur Begründung der Berufung gewahrt worden ist. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) auf eine Rechtsbeschwerde hin entschieden und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen (Beschluss vom 13.07.2022 - VII ZB 29/21).

Hintergrund der Entscheidung war die Klageabweisung des Landgerichts (LG) Würzburg mit Urteil vom 22.12.2020 in einem Verfahren um Schadensersatz wegen eines Autokaufs. Hiergegen hatte der Kläger zwar schon am 12.01.2021 Berufung beim Oberlandesgericht (OLG) Bamberg eingelegt, jedoch erst am 23.02.2021 eine Fristverlängerung für die Berufungsbegründung beantragt. Das Berufungsgericht verwarf die Berufung wegen des angeblichen Fristablaufs als unzulässig. Es stellte darauf ab, das Urteil des LG sei bereits am 22.12.2020 zugestellt worden, sodass die Begründungsfrist mit Ablauf des 22.02.2021 geendet habe. Der Rechtsanwalt hatte sich jedoch bereits bei Einlegung der Berufung im Januar auf das "am 22.12.2020 verkündete und am 23.12.2020 zugestellte Urteil" des LG berufen. Tatsächlich ergaben sich auch im weiteren Verlauf einige Unstimmigkeiten hinsichtlich des Zustelldatums.

Verwirrung um das Zustelldatum des Urteils

Wieso es hier überhaupt zu einer Verwirrung um das Zustelldatum kam, erschließt sich bei genauer Betrachtung des Sachverhalts:

Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hatte die Übersendung einer beglaubigten Abschrift des Urteils an die Prozessbevollmächtigten der Parteien unter dem Datum „23.12.2020“ handschriftlich in der Akte vermerkt. Aus den zur Akte gelangten Empfangsbekenntnissen der beiden Prozessbevollmächtigten war hingegen der 22.12.2020 als Empfangsdatum für die Zustellung des Urteils zu entnehmen. 

Um diese Unklarheit aufzuklären, kontaktierte das Berufungsgericht die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des LG. Diese sagte zunächst telefonisch zu den Vorgängen, aus der EDV sei ersichtlich, "dass das Urteil vom 22.12.2020 (vermutlich wegen EDV-Störungen) 2x elektronisch zugestellt wurde", nämlich "am 22.12.2020, 14:56 Uhr", und "am 23.12.2020, 10:30 Uhr". Allerdings, führte die Urkundsbeamtin kurze Zeit später schriftlich auch aus, komme es in letzter Zeit leider häufiger vor, dass die elektronische Übermittlung nicht immer funktioniere und das Dokument "gelb" (= nicht gesendet) hinterlegt sei. Am nächsten Tag werde der Ausgang nochmals geprüft und das Dokument, sollte dieses noch immer nicht versandt sein, erneut versendet. Somit standen eigentlich zwei Varianten der Geschehensabläufe im Raum: 1. Das Dokument wurde zweimal versandt oder 2. Das Dokument wurde erst am zweiten Tag tatsächlich versandt.

Trotz dieser tatsächlichen Unsicherheit verwarf das Berufungsgericht die Berufung im April 2021 wegen des vermeintlichen Fristablaufs als unzulässig und stellte dabei nur auf das bei der Akte befindliche Empfangsbekenntnis ab. Es ging davon aus, dass es einfach zu einer doppelten Zustellung gekommen sei.

Nach Rückkehr der Akte zum LG fertigte die Urkundsbeamtin nach erneuter Prüfung des Sachverhalts anhand des Akteninhalts eine weitere Stellungnahme, in der sich alles final aufklärte: Hiernach sei am 22.12.2020 "versehentlich zusammen mit dem Protokoll ein in der Akte befindlicher Urteilsentwurf versendet [worden], der z.B. auch noch nicht den aktuellen Kilometerstand enthielt." Mit Mitteilung vom 22.12.2020 habe sie die Kanzleien des Kläger- und des Beklagtenvertreters "per beA von dem Missgeschick" unterrichtet und ihnen mitgeteilt, "dass der Urteilsentwurf vernichtet werden soll und dass das tatsächlich erlassene Urteil zusammen mit dem Protokoll umgehend erneut zugesendet wird." Dies habe sie dann am 23.12.2020 erledigt. Das Empfangsbekenntnis für dieses Urteil sei per beA eingegangen, "wurde jedoch nicht zur Akte genommen." Nachdem die Geschäftsstelle des Berufungsgerichts sie am 24.03.2021 telefonisch nach der genauen Zustellung gefragt habe, habe sie anhand der beA-Ausgänge gesehen, dass zweimal eine Zustellung erfolgt sei. Sie habe allerdings "irrtümlicherweise" gedacht, "dass dies durch einen technischen Fehler passiert sei," was sie der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts auch so mitgeteilt habe. Der tatsächliche Vorgang sei ihr in diesem Moment "entfallen". Die an die Kanzleien übersandte Mitteilung vom 22.12.2020 habe sie dabei leider übersehen. Nach dieser Auskunft war der Sachverhalt nun eigentlich klar und sprach eindeutig für den Kläger und die fristgemäße Einreichung der Berufungsbegründung – dafür war es nach dem Beschluss des OLG aber nun zu spät.

BGH: Berufungsgericht muss alle erschließbaren Erkenntnisse ausschöpfen

Dementsprechend wandte sich der Kläger mit einer Rechtsbeschwerde gegen den Verwerfungsbeschluss des Berufungsgerichts an den BGH – mit Erfolg. Der BGH hob den angefochtenen Beschluss auf und verwies die Sache zurück.

Die angefochtene Entscheidung verletze das Verfahrensgrundrecht des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip), so der BGH. Dieses verbiete es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Das Berufungsgericht habe rechtsfehlerhaft angenommen, die Berufung sei unzulässig. Vielmehr habe es die Rechtzeitigkeit des Eingangs dieses Antrags nicht ausreichend aufgeklärt.

Das Berufungsgericht habe gemäß § 522 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) von Amts wegen zu prüfen, ob die Frist zur Begründung der Berufung gewahrt worden ist bzw. ob rechtzeitig einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist gestellt wurde. Dabei sei das Berufungsgericht nicht an die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses gebunden, vielmehr gelte nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz des Freibeweises. Dabei gingen erst nach Ausschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisse etwa noch vorhandene Zweifel zu Lasten des Rechtsmittelführers.

Berufungsgericht hätte den Sachverhalt weiter prüfen müssen

Nach diesen Maßstäben hätte das Berufungsgericht nicht bereits auf der Grundlage der telefonischen und sich hieran anschließenden schriftlichen Auskunft der Urkundsbeamtin die Berufung als unzulässig verwerfen dürfen, weil es zuvor nicht alle erschließbaren Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft habe.

Zwar habe es ausgereicht, hier allein bei der Urkundsbeamtin nachzufragen - die in der Sache erkennende Richterin hätte hier kaum weitergehende Erkenntnisse über die Zustellungsvorgänge gehabt, weil die Geschäftsstelle die Zustellung nach § 168 Abs. 1 Satz 1 ZPO in eigener Zuständigkeit und Verantwortung ausführe und überwache.

Die vom Berufungsgericht unternommenen Aufklärungsbemühungen seien indes nicht ausreichend gewesen. Das Berufungsgericht hätte nach der telefonischen und schriftlichen Stellungnahme der Urkundsbeamtin noch keine abschließende Entscheidung treffen dürfen. Schließlich sei der Sachverhalt zu dem Zeitpunkt noch unklar gewesen. Insbesondere habe sich nicht erschlossen, weshalb der Prozessbevollmächtigte ein erst am 23.12.2020 beglaubigtes Urteil vorgelegt hat. Denn wäre das Urteil bereits am 22.12.2020 zugestellt worden, hätte es nach §§ 317 Abs. 1 S. 1, 169 Abs. 2 S. 1 ZPO  der ein auf diesen Tag datierendes Beglaubigungsdatum tragen müssen. Hieran hätte auch eine erneute Zustellung des Urteils am Folgetag mangels Einfluss auf das bereits vorhandene Beglaubigungsdatum nichts ändern können. Ebenfalls unaufgeklärt geblieben sei, weshalb die Urkundsbeamtin in der Akte handschriftlich den Erledigungsvermerk auf den 23.12.2020 und nicht auf den 22.12.2020 datiert hat. Auch die weiteren Unklarheiten und Widersprüche hätten dem Berufungsgericht Veranlassung zu einer weiteren Aufklärung geben müssen. Insbesondere habe das OLG nicht berücksichtigt, dass eine zweifach erfolgreiche Übersendung des Urteils nicht auf einer technischen Störung beruhen hätte können. Denn nach der Stellungnahme der Urkundsbeamtin erfolge eine zweite Versendung nur dann, wenn die erste fehlgeschlagen sei.

Das OLG hätte nach diesen Unstimmigkeiten die Akte an die Urkundsbeamtin übersenden müssen, damit diese die Vorgänge genau prüfen und rekonstruieren hätte können. Weil es das nicht getan hat, hat der BGH hat seinen ablehnenden Beschluss aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.