LAG Niedersachsen zu AU

Der Beweiswert einer Krankschreibung bis Ende der Kündigungsfrist

Nur weil sich ein Arbeitnehmer genau bis zum Ende der Kündigungsfrist krankschreiben lässt, ist der Beweiswert einer AU noch nicht erschüttert.

06.07.2023Rechtsprechung

Allein die Tatsache, dass sich ein Arbeitnehmer genau bis zum Ende der Kündigungsfrist krankschreiben lasse und einen Tag wieder woanders arbeiten könne, erschüttere noch nicht den Anscheinsbeweis seiner Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU), so das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen. Zumindest dann nicht, wenn – wie hier – der Arbeitnehmer bereits vor der Kündigung durch den Arbeitgeber krankgeschrieben war. Anders sähe es aus, wenn die Krankschreibung erst nach einer solchen Kündigung erfolgt wäre (Urt. v. 08.03.2023, Az. 8 Sa 859/22).

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlungsansprüche aus dem beendeten Arbeitsverhältnis. Der Arbeitnehmer hatte etwas über ein Jahr bei der beklagten Zeitarbeitsfirma gearbeitet, wurde aber zunächst einige Wochen nicht eingesetzt und ließ sich dann für vier Tage krankschreiben. Einen Tag später erhielt er die Kündigung zum Monatsende. In der Folge legte er zwei weitere AU vor (mit unterschiedlichen Diagnosen), durch die er exakt bis zum Ende der Kündigungsfrist krankgeschrieben war. Am Tag nach dem Ende der Krankschreibung – was mit dem Ende der Kündigungsfrist zusammenfiel – fing er wieder an, bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten. Der Arbeitgeber hatte wegen der Koinzidenz Zweifel an der Echtheit der AU und verweigerte die Entgeltfortzahlung. Daraufhin klagte der Arbeitnehmer auf seinen Lohn. Das Arbeitsgericht Hildesheim gab der Klage mit der Begründung statt, dass der Beweiswert der AU nicht durch die Arbeitgeberin erschüttert worden sei (Urt. v. 26.10.2022, Az. 2 Ca 190/22).

LAG: Zeitliche Abfolge ist maßgeblich

Die hiergegen eingelegte Berufung der Arbeitgeberin beim LAG Niedersachsen blieb erfolglos. Dieses führte in seinem Urteil verschiedene Konstellationen auf, die sich unterschiedlich auf den Beweiswert einer AU auswirkten.

Zwar hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass der Beweiswert einer AU dadurch erschüttert werden könne, dass der Arbeitnehmer sich direkt, nachdem er eine Kündigung erhalten hat, krankmeldet und eine AU einreicht. Dies gelte insbesondere dann, wenn lückenlos der gesamte Zeitraum der Kündigungsfrist - auch durch mehrere AU - abgedeckt werde.

Anders liege der Fall, wenn der Arbeitnehmer sich bereits krank gemeldet hatte, bevor er vom Arbeitgeber gekündigt wurde. Dann aber könne die Kündigung nicht ursächlich für die Krankschreibung gewesen sein – ein Kausalzusammenhang sei aber notwendig, um den Beweiswert einer AU zu erschüttern. Auch die Tatsache, dass der Arbeitnehmer bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben war, am unmittelbar darauffolgenden Tag aber direkt bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten begann, erschüttere den Beweiswert einer AU nicht. Dies gelte allgemein in der Regel – anders könnte es aussehen, wenn weitere Umstände hinzuträten.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassene Revision ist derzeit beim BAG anhängig (Az. 5 AZR 137/23). Das BAG könnte u.a. die Tatsache, dass der Mann exakt einen Tag nach Ende der Kündigungsfrist wieder gesund war, auch anders bewerten.