Trotz CAS-Schiedsklausel

Claudia Pechstein darf vor deutschen Gerichten klagen

Die 2009 wegen Dopings gesperrte Eisläuferin ist nicht an eine Schiedsklausel zugunsten des CAS gebunden, entschied das BVerfG. Das kommt überraschend.

12.07.2022Rechtsprechung

Claudia Pechstein hat bisher achtmal an olympischen Spielen teilgenommen. Sie ist die erste Wintersportlerin, der das bisher gelungen ist. Ihre Ausdauer in Sachen Rechtsstreitigkeiten aber könnte ihre sportliche Ausdauer sogar noch übersteigen.

Am Dienstag wurde bekannt, dass sie bereits Anfang Juni einen Etappensieg vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) errungen hat: Die Karlsruher Richterinnen und Richter entschieden, dass der Bundesgerichtshof (BGH) mit seinem Urteil, Pechstein dürfe nicht vor deutschen Gerichten gegen eine gegen sie verhängte Dopingsperre vorgehen, ihren Anspruch auf ein öffentliches Verfahren sowie ihren Justizgewährungsanspruch verkannt hat (BVerfG, Beschl. v. 03.06.2022, Az. 1 BvR 2103/06).

Der BGH hatte im Jahr 2016 eine Klage von Pechstein vor deutschen Gerichten für unzulässig erklärt, weil ihr eine Schiedsvereinbarung entgegenstehe, die die Sportlerin im Jahr 2009 mit der International Skating Union (ISU) abgeschlossen hatte (BGH, Urt. v. 07.06.2016, Az. KZR 6/15). Als Pechstein sich damals zu einer Mehrkampfweltmeisterschaft angemeldet hatte, hatte sie mit der Anmeldung – verpflichtend – auch die Einhaltung der Doping-Regeln bestätigt und eine Schiedsvereinbarung zugunsten des Court of Arbitration for Sports (CAS) unterzeichnet. Eventuelle Streitigkeiten sollten also dort und nicht vor staatlichen Gerichten ausgetragen werden.

Vor dem BGH ging es dann vor allem um die Frage, ob die Schiedsvereinbarung unwirksam war, weil der beklagte Verband ISU seine marktbeherrschende Stellung ausgenutzt hatte, als er Pechstein zwang, mit der Anmeldung auch die Schiedsvereinbarung zu unterzeichnen. Sonst hätte sie nicht teilnehmen dürfen, vergleichbare Wettkämpfe im Eisschnelllauf außerhalb des ISU gibt es nicht.

Das BVerfG sieht den springenden Punkt jetzt in der mangenden Öffentlichkeit des Verfahrens vor dem CAS. Dabei stellen die Verfassungsrichter und -richterinnen auf einen anderen Aspekt ab als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Der hatte - wie auch der BGH - den Schiedsspruch gegen Pechstein im Jahr 2018 noch für wirksam gehalten. 

BVerfG: CAS-Statuten berücksichtigten Justizgewährungsanspruch nicht genug

Claudia Pechstein war 2009 bei der Mehrkampfmeisterschaft nach erhöhten Blutwerten wegen unerlaubten Blutdopings für zwei Jahre gesperrt worden. Gegen diese Entscheidung wehrte sie sich, verlor aber vor dem CAS ebenso wie vor dem Schweizer Berufungsgericht. Die Verhandlung vor dem CAS fand trotz ihres Antrags, die Verhandlung öffentlich durchzuführen, nichtöffentlich statt.

Parallel zu diesem Verfahren klagte Pechstein vor deutschen Gerichten auf Schadensersatz, weil sie zwei Jahre lang zu Unrecht wegen angeblichen Dopings gesperrt gewesen sei. Während das Oberlandesgericht (OLG) München das trotz der Schiedsabrede zugunsten des CAS noch für möglich gehalten hatte, erklärte der BGH ihre Klage für unzulässig, weil ihr die wirksame Schiedsvereinbarung entgegenstehe (§ 1032 Abs. 2 i.V.m. § 1025 Abs. 2 Zivilprozessordnung): Weder habe der ISU bei deren Abschluss seine Marktmacht missbraucht noch wiesen die in der Vereinbarung in Bezug genommenen Statuten des CAS gravierende Mängel auf. Diese Argumentation hat das BVerfG nun für verfassungswidrig erklärt.

Der Kartellrechts-Senat des BGH habe bei seiner Prüfung der Schiedsabrede nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Statuten des CAS keinen Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung vorsahen und Pechstein eine öffentliche Verhandlung beantragte hatte. Damit habe der BGH das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt und den „Gewährleistungsgehalt des Justizgewährungsanspruchs“ von Pechstein „nicht mit dessen vollem Gewicht in die Abwägung eingestellt“.

BVerfG stellt nicht auf konkretes Pechstein-Verfahren ab

Das BVerfG erklärt zwar Schiedsvereinbarungen für grundsätzlich zulässig und von der Vertragsfreiheit gedeckt. Die Richterinnen und Richter halten es aber für „jedenfalls nicht uneingeschränkt möglich“, im Bereich des Sports durch eine Schiedsvereinbarung komplett auf den Zugang zu den staatlichen Gerichten zu verzichten. Der Staat, der alternative, nicht-staatliche Schiedsvereinbarungen immerhin anerkennt und vollstreckt, müsse vielmehr dafür sorgen, dass auch das Schiedsverfahren effektiven Rechtsschutz gewährleistet und rechtsstaatlichen Mindeststandards entspricht – also auch den Justizgewährungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz garantiert.

In die Abwägung, ob das Schiedsverfahren diese Anforderungen erfüllt, lässt das BVerfG auch die Situation einfließen, in der Pechstein sich bei Unterzeichnung der Schiedsvereinbarung gegenüber dem mächtigen Verband befand.

Für entscheidend erklärt das BVerfG aber den Verstoß gegen den rechtsstaatlich zwingend zu beachtenden Öffentlichkeitsgrundsatz. Der bedeute zwar nicht, dass die Öffentlichkeit immer und unter allen Umständen zugelassen werden müsse, auch nicht in Schiedsverfahren. Die Karlsruher Richterinnen und Richter stellen ausdrücklich auch nicht darauf ab, ob konkret in Pechsteins Verfahren eine öffentliche Verhandlung hätte stattfinden müssen; es gehe vielmehr darum, dass die zum damaligen Zeitpunkt geltenden Statuten des CAS auch dann keinen Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung vorsahen, wenn eine solche nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zwingend geboten wäre, so die 2. Kammer des Ersten Senats.    

Nur ein weiterer Etappensieg

Auch der EGMR hat in Sachen Pechstein im Jahr 2018 bereits entschieden, allerdings mit durchaus anderer Betonung in der Argumentation und auch im Ergebnis als nun das BVerfG. Der Menschenrechtsgerichtshof war nämlich zu dem Ergebnis gekommen, dass das Verfahren vor dem CAS Pechstein insgesamt nicht in ihren Rechten verletzt habe.

Indem der CAS ihr eine mündliche Verhandlung verweigert habe, habe er zwar ihr Recht auf ein faires Verfahren verletzt, entschied der EGMR damals. Das führte allerdings nur zu einer Entschädigung, nicht aber zur Aufhebung des Schiedsspruchs, um die es Pechstein eigentlich ging. Der CAS sei – trotz geschlossener Schiedsrichterliste und der umstrittenen Schiedsvereinbarung mit den Sportlerinnen und Sportlern - eine neutrale Entscheidungsinstanz im Sport, argumentierten die Richterinnen und Richter in Luxemburg (EGMR, Urt. v. 02.10.2018, Az. 67474/10), Pechstein unterlag.

Expertinnen und Experten mögen daher von der nun bekannt gewordenen Entscheidung aus Karlsruhe überrascht sein. Der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG reichen schon die Statuten des CAS aus, um die Verfahrensrechte Pechsteins als verletzt anzusehen. Diese Statuten wurden zwischenzeitlich überarbeitet, über deren aktuelle Formulierung hat das BVerfG ausdrücklich nicht entschieden.

Einmal mehr ist auch dieser Sieg nur ein Etappensieg. Pechsteins Schadensersatzklage wegen der Dopingsperre, um die es in der Sache eigentlich geht, ist nun, nachdem das Urteil des BGH kassiert wurde, wieder auf dem Stand von 2015. Das OLG München hatte die Schiedsvereinbarung zugunsten des CAS damals für nichtig und Pechsteins Klage vor den deutschen Gerichten damit für zulässig erklärt. Vielleicht können die Gerichte sich nun tatsächlich in der Sache damit beschäftigen, ob Claudia Pechstein Schadensersatz zusteht, weil sie zu Unrecht wegen Dopings gesperrt wurde. Ein Expertengremium des Deutschen Olympischen Sportbunds bestätigte schon 2015, wenige Wochen nach dem Urteil des OLG München, dass eine von ihrem Vater geerbte Blutanomalie die erhöhten Blutwerte bei Pechstein verursacht habe.