BAG erhöhte Nachtzuschläge: BVerfG sieht Tarifautonomie verletzt
Weil Nacht- und Nachtschichtarbeiter unterschiedlich bezahlt werden, erhöhte das BAG eigenständig die Zuschläge. Das geht nicht, so das BVerfG.
Gerichte können Tarifverträge in der Regel nicht eigenständig anpassen, weil sie diese als rechtswidrig erachten. Dies geht aus einem nun veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hervor. Zwar müssten die Tarifvertragsparteien bei der Tarifnormsetzung Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) direkt beachten, so die Mehrheit des ersten Senats (7:1). Die Gerichte seien aber – hier war sich der Senat einig - wegen der in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Tarifautonomie auf eine Willkürkontrolle von tarifvertraglichen Regelungen begrenzt. Zudem dürften sie, selbst wenn dabei Rechtsverstöße festgestellt werden, die Tarifverträge nicht mit Wirkung für die Zukunft und regelmäßig auch nicht für die Vergangenheit selbst ändern. Stattdessen müssten sie dies vorrangig den Tarifvertragsparteien überlassen (Beschl. v. 11.12.2024, Az. 1 BvR 1109/21).
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte zwei tariflich gebundene Arbeitgeberinnen zur Zahlung höherer als tarifvertraglich vereinbarter Nachtschichtarbeits-Zuschläge verurteilt. Hintergrund war, dass in dem Tarifvertrag Nachtarbeitende einen Zuschlag von 50 % erhalten, in Nachtschicht Arbeitende jedoch nur 25 %. Die Differenzierung wurde damit begründet, dass lediglich in Nachtschicht Arbeitende grundsätzlich auch von Schichtfreizeiten, bezahlten Pausen sowie von einer Aufsummierung verschiedener Zuschläge profitieren könnten. Das BAG sah für die differenzierende Regelung jedoch keinen sachlichen Grund und daher eine Verletzung des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG. In der Folge passte es die tariflichen Zuschlagsregelungen in der Folge mit Wirkung für die Vergangenheit und in einem Urteil auch für die Zukunft „nach oben“ an. Es verurteilte die Arbeitgeberinnen außerdem zu entsprechenden Nachzahlungen an die klagenden Mitarbeitenden.
Gerichte sind bei Tarifverträgen auf Willkürkontrolle beschränkt
Das BVerfG hat nun den Verfassungsbeschwerden der Arbeitgeberinnen stattgegeben. Die Urteile des BAG verletzen sie in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG. Wenn sich der Senat auch im Ergebnis einig war, gingen die Meinungen der Richterinnen und Richter an einem Punkt auseinander:
Sieben der Verfassungsrichterinnen und -richter waren der Auffassung, der Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG begrenze die Tarifvertragsparteien, indem er sie unmittelbar binde. Einer solchen Auffassung stünden weder Art. 1 Abs. 3 GG noch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes entgegen. Grund für die direkte Bindung sei insbesondere die spezifische Gefährdungslage für Mitglieder von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden: Durch die rechtsverbindliche Wirkung der Tarifverträge könne ihre individuelle Freiheit gefährdet werden, auch wenn sie als Mitglieder von Koalitionen regelmäßig keinen unmittelbaren Einfluss auf die konkreten Tarifverhandlungen hätten.
Verfassungsrichter Wolff legte hingegen in einem Sondervotum dar, dass er die Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG lediglich über die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte sehe. Das „Einfallstor“ für die Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes, also eine auslegungs- oder konkretisierungsbedürftige Norm der Zivilrechtsordnung, sieht er insbesondere in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG. Grundrechte sollten nur den Staat, nicht aber Private direkt binden – dies würde die Privatautonomie zu sehr beschränken. Konkret bedeutet das für ihn: Tarifvertragsparteien dürften nicht einzelne Gruppen im Sinne einer willkürlichen Schlechterbehandlung erkennbar diskriminieren.
Sachliche Gründe für Ungleichbehandlung
Im Ergebnis war sich der Senat einig: Gerichte seien bei der Prüfung der Regeln des Tarifvertrags auf eine Willkürkontrolle beschränkt – und diese Grenze habe das BAG in mehrfacher Hinsicht überschritten.
Die beanstandeten Zuschlagsregelungen lägen – als grundlegende Elemente des Leistungsaustausches - im Kernbereich der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien. Die darin liegenden Ungleichbehandlungen seien aber - ausgehend vom Willkürmaßstab - nicht zu beanstanden, so das BVerfG. Sie knüpften aber weder an personenbezogene Merkmale im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG an, noch seien sonst Anzeichen gravierend fehlgehender Repräsentation gegeben.
Vielmehr habe es sachlich einleuchtende Gründe für die Differenzierung zwischen Nacht- und Nachtschichtarbeit gegeben: etwa unterschiedliche soziale Belastungen in Folge der unterschiedlichen Planbarkeit, die Verteuerung von Nachtarbeit für den Arbeitgeber sowie die Erwägung, dass die Beschäftigten durch den erhöhten Zuschlag zur Erbringung von Nachtarbeit motiviert werden könnten. Das BAG habe jedoch sehr viel detaillierter geprüft als lediglich eine Willkürkontrolle vorzunehmen, und bereits dadurch den aus Art. 9 Abs. 3 GG folgenden Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien verletzt.
Gerichte dürfen Tarifverträge meist nicht eigenständig anpassen
Zum anderen verletze das BAG die Koalitionsfreiheit auch im Rechtsfolgenausspruch für die Vergangenheit und Zukunft. Selbst wenn tatsächlich eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG vorgelegen hätte, so hätte das BAG nicht einfach eigenständig die Zuschläge anpassen dürfen. Wörtlich schreibt das BVerfG: „Gerichte dürfen in diesen Fällen also nicht unmittelbar eine rechtlich individuell verbindliche und faktisch mittelbar auf gleich gelagerte Anwendungsfälle ausstrahlende Neuregelung zur Herstellung der gebotenen Gleichbehandlung treffen.“ Die Tarifautonomie beinhalte auch, Ungleichbehandlungen autonom über den Tarifvertrag zu korrigieren.
„Angesichts des für die Zukunft bestehenden Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien“ dürften Gerichte regelmäßig nicht „für die Zukunft, sondern allenfalls für die Vergangenheit“ eigenständig Anpassungen vornehmen. Für zukünftige Regeln hätten die Koalitionäre eine „primäre Korrekturkompetenz“. Doch auch im Hinblick auf die Vergangenheit bestehe ein Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. So müsse ihnen „Gelegenheit gegeben werden, […] einen schonenden Ausgleich der widerstreitenden Positionen im Wege einer autonomen Verhandlung zu erzielen.“ Eine Regelungskompetenz für die Vergangenheit komme nur in Betracht, wenn das Ermessen auf eine einzige Gestaltungsmöglichkeit reduziert gewesen sei.
Im konkreten Fall habe sich eine „Anpassung nach oben“ jedoch nicht aufgedrängt. Vielmehr hätte es mehrere Regelungsmöglichkeiten gegeben – etwa, deklaratorisch klarzustellen, „dass der höhere Nachtarbeitszuschlag insbesondere dem Ausgleich der fehlenden Planbarkeit dient“. Zudem trüge die Regelung durch das BAG dem Willen der Tarifvertragsparteien keine Rechnung. Schließlich sei die Nachtarbeit die absolute Ausnahme, es gebe aber viele in Nachtschicht Arbeitende. Die Arbeitgeberinnen hätten einem Zuschlag von 50 % für die spezielle Gruppe der Nachtarbeitenden aber nie zugestimmt, hätten sie gewusst, dass ein Gericht dies auf alle in Nachtschicht Arbeitenden ausdehnen würde. Außerdem würden in Nachtschicht Arbeitende durch die Regelung des BAG bevorzugt, schließlich erhielte diese Gruppe als Ausgleich nicht nur finanzielle Zuschläge.
Die Urteile des BAG wurden dementsprechend aufgehoben und an das Gericht zurückverwiesen.