Bundeswahlgesetz

BVerfG: Wahlrechtsreform der Ampel im Kern verfassungsgemäß

Das BVerfG hat das neue Wahlverfahren grundlegend gebilligt. Nur die Sperrklausel benachteilige die CSU und müsse geändert werden.

13.08.2024Rechtsprechung

Das BVerfG hat in einem Grundsatzurteil entschieden, dass der Kern der Wahlrechtsreform der Ampel, das sog. „Zweitstimmendeckungsverfahren“, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dabei betonen die Karlsruher Richterinnen und Richter die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers für das Wahlverfahren. Die 5 %-Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verstoße aber gegen Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Denn sie kann dazu führen, dass die CSU nicht in den Bundestag einziehen könne, obwohl sie die Mehrheit der Wahlkreise in Bayern gewinnen könnte. Hier müsse der Gesetzgeber eine neue Regelung finden. Bis dahin gelte die bisherige Grundmandatsklausel vorerst weiter. Nach dieser ziehen auch die Parteien mit der Stärke ihrer Zweitstimmen in den Bundestag ein, wenn sie mindestens drei Direktmandate über die Erststimme gewonnen haben (Urt. v. 30. Juli 2024, Az. 2 BvF 1/23, 2 BvR 1547/23, 2 BvR 1523/23, 2 BvE 10/23, 2 BvE 9/23, 2 BvE 2/23, 2 BvF 3/23).

Das alte Wahlsystem und seine Reform

Am 17. März 2023 beschlossen die Regierungsfraktionen der Ampel-Koalition im Bundestag eine Änderung des BWahlG, um den Bundestag zukünftig auf eine Abgeordnetenzahl von 630 zu begrenzen. Zuvor war das Parlament durch Überhang- und Ausgleichsmandate immer größer geworden, zwischenzeitlich waren es 736 Sitze statt der vorgesehenen 598. Dies kam dadurch zustande, dass früher alle Kandidaten, die in ihrem Wahlkreis die Mehrheit der Erststimmen auf sich vereinen konnten, in den Bundestag einzogen. Wenn dann aber eine Partei – wie die CSU – mehr Kandidaten stellte als ihr nach der Zweitstimme eigentlich zugestanden hätte, musste das Verhältnis der Wahl durch Ausgleichsmandate für die anderen Parteien wiederhergestellt werden. So wurde der Bundestag immer größer.

Mit der Wahlrechtsreform wurde dann das sog. Zweitstimmendeckungsverfahren eingeführt, um künftig die zahlenmäßige Deckelung der Sitze zu erreichen. Danach ist grundsätzlich (bis auf Ausnahmen für parteilose Wahlkreis-Bewerber) nur noch die Anzahl der Zweitstimmen für die Partei entscheidend dafür, in welcher Fraktionsstärke eine Partei in den Bundestag einzieht. Gibt es nun mehr Wahlkreis-Sieger als Sitze für eine Partei, so gehen die Direktkandidaten mit dem geringsten Wahlergebnis leer aus. Die 5%-Sperrklausel wurde beibehalten. Allerdings wurde die sog. Grundmandatsklausel kurz vor Ende des Gesetzgebungsverfahrens gestrichen. Davon hatte zuletzt die Partei die LINKE profitiert, die zwar mit 4,9 % eigentlich an der Sperrklausel scheiterte, jedoch aufgrund von drei Direktkandidaten doch in den Bundestag einziehen konnte.

CSU, CDU und LINKE gehen gegen die Reform vor

Gegen das Zweitstimmendeckungsverfahren und die 5 %-Sperrklausel haben die Bayerische Staatsregierung und 195 Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Normenkontrolle beantragt, die CSU hat als Partei außerdem eine Organklage gegen den Bundestag erhoben, der die CDU beigetreten ist.

Zwei weitere Organklagen der Partei DIE LINKE und der damaligen Bundestagsfraktion DIE LINKE gegen den Bundestag sowie eine Verfassungsbeschwerde von 212 ihrer „Wähler/Sympathisanten“ wenden sich inhaltlich gegen die nicht mehr mit einer „Grundmandatsklausel“ versehene Sperrklausel. Gegen die Sperrklausel als solche haben auch 4.242 Personen Verfassungsbeschwerde eingelegt.

Das BVerfG hat nun entschieden: Das Verfahren der Zweitstimmendeckung ist mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und Art. 21 Abs. 1 GG vereinbar. Die 5 %-Sperrklausel in der aktuellen Ausgestaltung ist mit diesen Maßstäben hingegen unvereinbar.

Zunächst verweist das BVerfG auf den gesetzgeberischen Spielraum bei der Ausgestaltung des Wahlverfahrens, der lediglich durch die Wahlgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG beschränkt werde. Auch bei der Wahrung der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) habe der Gesetzgeber einen – wenn auch eng bemessenen – Spielraum für Differenzierungen.

BVerfG: Zweitstimmendeckungsverfahren ist verfassungsgemäß

Der Gesetzgeber könne entsprechend dieser Grundsätze „Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd waren und Wählerinnen und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken“ abverlangten, so das BVerfG. Der Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren, sei nicht an besondere Voraussetzungen gebunden.

Der Gesetzgeber könne – wie im Zweitstimmendeckungsverfahren geschehen - die Verhältniswahl mit Elementen der Personenwahl verbinden, müsse dies aber nicht. Es sei nicht einmal zwingend, dass die Direktwahl von Personen in einem Wahlkreis beibehalten wird, auch eine reine Verhältniswahl wäre zulässig. Ein „Gebot der Regionalisierung oder der Wahlkreisrepräsentation“, wie es die Kläger z.T. vorgebracht hatten, finde im Grundgesetz und im bisherigen Wahlrecht keine Stütze. "Auch wenn [eine Partei] alle oder nahezu alle Wahlkreismandate in einem Land gewinnt, wird sie damit nach der Konzeption des Grundgesetzes nicht zur Repräsentantin dieses Landes im Bundestag," heißt es in dem Urteil. Es spreche dementsprechend auch nichts dagegen, wenn ein Wahlkreisgewinner nicht in den Bundestag ziehe – der Wahlkreis werde trotzdem durch die anderen gewählten Abgeordneten repräsentiert.

Auch dass von Parteien unabhängige Bewerberinnen und Bewerber unabhängig vom Sitzvergabeverfahren ein Bundestagsmandat gemäß § 6 Abs. 2 BWahlG nach dem Zweitstimmenergebnis erhalten, verletze nicht das Gebot der Wahlgleichheit. Die Möglichkeit, unabhängige Wahlkreisbewerber vorzuschlagen, sichere das Wahlvorschlagsrecht aller Wahlberechtigten unabhängig von politischen Parteien als Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl.

BVerfG: Sperrklausel in der aktuellen Variante verfassungswidrig

Die Sperrklausel sei hingegen aktuell verfassungswidrig. Zwar könnten Sperrklauseln die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments sichern und eine Zersplitterung verhindern; daher seien sie grundsätzlich legitim. Die Höhe der Sperrklausel von 5 % sei für diesen Zweck auch sachgerecht.

Doch für den konkreten Fall der CSU könnte die derzeitige Ausgestaltung in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG zu einem nicht tragbaren Ergebnis führen: Tatsächlich bestehe die Möglichkeit, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl mangels Überschreitens der bundesweiten 5 %-Sperrklausel bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird.

Im Fall einer Kooperation, wie sie seit Bestehen der Bundesrepublik zwischen CDU und CSU stattfindet, sei es zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages jedoch nicht notwendig, die CSU bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, obwohl beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden. Denn die Kooperation der CSU mit der CDU zeichne sich letztlich durch drei Elemente aus: erstens die Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, zweitens den Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden. Damit gehe die Kooperation über eine reine Koalition hinaus, weil sie u.a. auch in der Opposition bestehe. Es könne offenbleiben, ob alle drei Voraussetzungen vorliegen müssten, damit eine Kooperation berücksichtigt werden müsse – jedenfalls hier sei dies der Fall.

Der Gesetzgeber sei daher verpflichtet, die Sperrklausel neu zu gestalten. Er könne etwa eine Möglichkeit einführen, die beiden Parteien gemeinsam zu berücksichtigen – medial auch „lex CSU“ genannt. Er könne die Sperrklausel aber auch in anderer Weise modifizieren. Bis zur Neugestaltung jedenfalls gelte die Wahlkreisklausel weiter, die zuvor kurzfristig gestrichen worden war. Damit können weiterhin Parteien in den Bundestag einziehen, die mindestens drei Wahlkreise für sich gewonnen habe. Diese sei „den Parteien sowie den Wählerinnen und Wählern bekannt“ und stärke „überdies das Vertrauen darauf, dass die Wahlrechtsreform keine Partei benachteiligt“, so das BVerfG abschließend.