BVerfG zu Bundestagswahl

Wahl von 2021 muss in 455 Wahlbezirken Berlins wiederholt werden

Das BVerfG hat die Entscheidung des Bundestages zur Wahlwiederholung auf weitere 25 Wahlbezirke ausgeweitet – und dessen Arbeit gerügt.

21.12.2023Rechtsprechung

Mit am Dienstag verkündetem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden: Die Berliner Bundestagswahl 2021 muss in 455 von 2.256 Wahlbezirken des Landes Berlin wiederholt werden, und zwar als Erst- und Zweitstimmenwahl. Das sind insgesamt 25 mehr als die, bei denen der Bundestag schon die Wiederholung angeordnet hatte. Tatsächlich hat das BVerfG dessen Ergebnis sogar noch in weiterem Umfang revidiert: Denn es fand sogar in 31 Bezirken einschließlich der zugehörigen Briefwahlbezirke mandatsrelevante Fehler. Hingegen in sieben Bezirken und den dazugehörenden Briefwahlbezirken befanden die Karlsruher Richter – anders als der Bundestag - die Fehler nicht als gravierend genug, um die Wiederholung anzuordnen (Urt. v. 19.12.2023, Az. 2 BvC 4/23).

Die Neuwahl in den betroffenen Bezirken soll wohl am 11. Februar 2024 stattfinden, das kündigte Landeswahlleiter Stephan Bröchler in Karlsruhe an. Das sind exakt die 60 Tage nach dem BVerfG-Urteil, die gem. § 44 Abs. 3 Bundeswahlgesetz (BWahlG) erlaubt sind. Der Wahltermin muss allerdings noch im Amtsblatt verkündet werden.

BVerfG: Nicht nur Wahllokale, auch Bundestag arbeitete schlampig

Dass die Bundestagswahl vom 26. September 2021 wiederholt werden müsste, war bereits vorher klar. Zu viele Fehler waren bei der Berliner Wahl damals aufgetreten. Unklar war bislang nur, in welchem Umfang die Wiederholung stattfinden müsste. Mit Beschluss vom 10. November 2022 hatte der Bundestag die Bundestagswahl nur in 431 Wahlbezirken für ungültig erklärt (327 Wahlbezirke sowie 104 weitere Wahlbezirke wegen gemeinsamer Briefwahlbezirke).

Dagegen wandte sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit einer Wahlprüfungsbeschwerde. Sie wollten die Wiederholung in etwa der Hälfte der Wahlbezirke Berlins erreichen. Ein Antrag der AfD, sogar die ganze Wahl in Berlin zu wiederholen, hat das BVerfG hingegen wegen mangelnder Begründung als unzulässig verworfen (Beschl. v. 19.12.2023, Az. 2 BvC 5/23).

Auch, wenn das BVerfG den Beschluss des Bundestages nun „im Ergebnis“ für „überwiegend rechtmäßig“ erklärt, so kritisierte es doch seine unzureichenden Aufklärungsbemühungen: Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages hatte sich in seinen Recherchen lediglich auf die 1.713 Einsprüche gegen die Wahl, auf eine von der Landeswahlleitung Berlin erstellte Liste von Auffälligkeiten sowie auf Berichte von Bürgern. Die Niederschriften der einzelnen Wahlbezirke wurden hingegen nicht eingeholt und ausgewertet. Das habe das BVerfG nun „im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht“ nachgeholt. Dazu sei es auch befugt, wenn sich – wie hier - die „Beweiserhebung des Bundestages selbst als lückenhaft oder in sonstiger Weise unzureichend erweist“.

Die Fehler der Berliner Bundestagswahl im Einzelnen

Nach sehr genauer Prüfung besagter Unterlagen listete das BVerfG nun alle Fehler auf, die bei der Bundestagswahl passiert sind. Ein Wahlfehler liege immer dann vor, wenn die Regelungen des BWahlG und der Bundeswahlordnung (BWahlO) sowie die diese prägenden Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) verletzt seien. Nur soweit gesetzliche Vorgaben bestünden, kämen Wahlfehler in Betracht. Gemessen daran wiesen sowohl die Vorbereitung als auch die Durchführung der Wahl Fehler auf. Im Einzelnen:

  • Zu wenige Wahlkabinen, insbesondere angesichts einer langen Wartezeit bei sechs auszufüllenden Stimmzetteln (Verstoß gegen § 46 Abs. 1 Satz 3 BWahlO)
  • Zu wenige Stimmzettel (Verstoß gegen § 49 Nr. 3 BWahlO)
  • Es wurden Stimmzettel von anderen Wahlkreisen ausgegeben, sodass die Erststimme ungültig war (gem. § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Satz 2 Hs. 2 BWahlG)
  • Wahllokale waren zeitweilig völlig geschlossen (Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl gemäß § 54 BWahlO)
  • Wahl war zeitweilig unterbrochen (Verstoß gegen § 47 BWahlO, wonach die Wahl von 8 Uhr bis 18 Uhr dauert)
  • Personen, die nur bei der Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung wahlberechtigt waren, haben Stimmzettel für die Bundestagswahl erhalten und diese eingeworfen (Verstoß gegen § 56 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 BWahlO)
  • Überlange Wartezeiten von mehr als einer Stunde, denn diese indizierten regelmäßig eine unzureichende Ausstattung der Wahlräume mit Wahlkabinen und/oder Stimmzetteln (Verstoß gegen § 46 Abs. 1 Satz 3, § 49 Nr. 3 BWahlO). Geringere Wartezeiten seien hingegen nicht als Wahlfehler anzusehen. Diese Aussagen beziehen sich allerdings speziell auf die konkrete Wahl in Berlin, weil dort bis zu sechs Stimmen auf fünf unterschiedlichen Stimmzetteln abgegeben werden konnten.
  • Öffnungszeiten von Wahllokalen nach 18:30 Uhr. Denn dies sei wiederum ein ausreichendes Indiz für das Vorliegen sonstiger Wahlfehler, nämlich einer unzureichenden, fehlerhaften Ausstattung der Wahllokale. Grundsätzlich sei es auch ein Wahlfehler, wenn man Wählerinnen und Wähler zuließe, die erst nach 18 Uhr erschienen sind (wohl Verstoß gegen § 47 BWahlO). Im konkreten Fall sei ein solcher Fall jedoch nicht ersichtlich gewesen. Es sei hingegen kein Wahlfehler, wenn die Wählenden noch vor 18 Uhr erschienen und zur Wahl zugelassen wurden, aber die Stimme erst nach 18 Uhr eingeworfen haben – das war wohl hier mehrfach geschehen.
  • 1.080 Wahlbriefe aus fünf später für ungültig erklärten Wahlbezirken waren umverteilt worden, sodass sie in sechs anderen Bezirken gewertet wurden, die eigentlich nicht für ungültig erklärt wurden. Der Fehler schlägt aber so durch, dass deswegen auch die Wahl in den sechs anderen Bezirken ungültig ist (Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl).

Nach diesen Maßgaben fand das BVerfG in mehr Bezirken Fehler als in denen, die bereits der Bundestag benannt hatte. Hingegen hatte dieser auch Wartezeiten von weniger als einer Stunde bzw. unbezifferte Wartezeiten als Fehler gewertet – insoweit war der Beschluss des Bundestages aufzuheben.

Außerdem stellte das BVerfG klar: Dass die Niederschriften teilweise lückenhaft seien, insbesondere in Bezug auf Warteschlangen und Wartezeiten oder Unterbrechungen der Wahl, stelle weder selbst einen Wahlfehler dar, noch lasse es auf weitere Wahlfehler schließen. Insbesondere könne daher nicht von einer flächendeckend unzureichenden Ausstattung der Wahllokale ausgegangen werden.

Mandatsrelevanz der Fehler

Doch nicht alle gefundenen Fehler waren auch mandatsrelevant und führten so zu einer Anordnung der Neuwahl. Der Fehler müsse auch Einfluss auf die Verteilung der Sitze im Parlament haben können, so das BVerfG.

Als mandatsrelevant werteten die Verfassungsrichter die unzureichende Ausstattung der Urnenwahllokale mit Wahlkabinen und Stimmzetteln. Diese seien wahrscheinlich dafür ursächlich gewesen, dass Wahlberechtigte nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben. Es wäre möglich gewesen, dass die SPD ein weiteres Bundestagsmandat erhalten hätte.

Die vereinzelte Ausgabe von Stimmzetteln an nicht wahlberechtigte Personen sei hingegen nicht mandatsrelevant gewesen.

Umfang der Wahlwiederholung

Das BVerfG beanstandete nicht die Entscheidung des Bundestages, die Wahl nur in den betroffenen Wahlbezirken zu wiederholen. Eine Nichtigerklärung der gesamten Wahl setze Wahlfehler von einem solchen Gewicht voraus, dass der Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erscheint. Das sei hier nicht der Fall.

Der Vergleich zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshof (VGH) ändere daran nichts. Bereits am 16. November 2022 hatte der VGH des Landes Berlin die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen deswegen sogar in Gänze für ungültig erklärt. Die Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen fand am 12. Februar 2023 statt. Eine dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde ist allerdings noch offen. Die beiden Wahlen seien aber nicht vergleichbar: Sie basierten auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und dienten der Konstituierung unterschiedlicher Parlamente. Hinzu komme, dass bei den Landeswahlen Wahlfehler (wie etwa die Verwendung kopierter Stimmzettel) auftraten, die bei der Bundestagswahl nicht feststellbar seien. Vor allem aber sei der VGH davon ausgegangen, dass die von ihm festgestellten Wahlfehler 60 % der Mitglieder des Abgeordnetenhauses betrafen.

Es sei auch nicht zu beanstanden, dass der Deutsche Bundestag angeordnet hat, die Wahl durchgängig als Zweistimmenwahl zu wiederholen. Unabhängig davon, ob die Mandatsrelevanz sich nur auf das Erst- oder nur auf das Zweitstimmenergebnis beziehe, sei gem. § 44 Abs. 1 BWahlG allerdings immer die ganze Wahl zu wiederholen, also mit Erst- und Zweitstimme. Schließlich müsse sie nach „denselben Vorschriften wie die Hauptwahl“ wiederholt werden.

Schließlich merkte das BVerfG an, dass die zwischenzeitlichen Zu- oder Umzüge in oder aus Berlin nichts daran änderten, dass die Wahl teilweise wiederholt werden müsse. Zwar bestehe auch in diesen Fällen das Risiko der Doppel- beziehungsweise Nichtwahl. Diese Wirkung sei aber eine notwendige Folge der gesetzlichen Regelungen für die Wiederholungswahl. § 44 BWahlG sehe nach sechs Monaten die Erstellung neuer Wählerverzeichnisse vor. Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestünden nicht.