EMRK

75 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention – Europas Rechtsgewissen im Wandel

Seit 1950 bildet die Europäische Menschenrechtskonvention das juristische Rückgrat des Menschenrechtsschutzes in Europa. 75 Jahre nach ihrer Unterzeichnung zieht Europa Bilanz – zwischen rechtspolitischem Erfolg, neuen Konfliktfeldern und der Frage nach der Zukunft ihrer Bindungskraft.

04.11.2025Europa

Vor 75 Jahren, am 4.11.1950, unterzeichneten Deutschland und zwölf weitere Staaten in Rom die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Drei Jahre später trat sie in Kraft – als völkerrechtliche Antwort auf die Schrecken des zweiten Weltkriegs und als Ausdruck des Willens, in Europa künftig eine rechtsstaatlich gebundene Friedensordnung zu schaffen. Die EMRK gilt seither als zentrales Fundament der europäischen Wertegemeinschaft und markiert den Beginn eines bis heute einzigartigen supranationalen Rechtsschutzsystems.

Der Europarat, bereits 1949 gegründet, verstand sich von Anfang an als Hüter von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Die EMRK konkretisierte diesen Anspruch. Sie verleiht den Bürgerinnen und Bürgern Europas justiziable Rechte, darunter das Recht auf Leben, das Verbot von Folter und Sklaverei, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, ein faires Verfahren, Achtung des Privatlebens, Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit sowie das Diskriminierungsverbot. Heute schützt die Konvention rund 700 Millionen Menschen in 46 Vertragsstaaten – eine beachtliche Reichweite für ein ursprünglich regionales Vertragswerk.

Der EGMR als Wächter der Konvention

Mit der Errichtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) 1959 in Straßburg wurde aus den politischen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ein einklagbares Recht. Der EGMR prüft, ob nationale Gerichte und Behörden die Konventionsrechte wahren. Voraussetzung ist die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs. Seit seiner ersten Sitzung hat das Gericht über eine Million Beschwerden bearbeitet und mehr als 26.000 Urteile gefällt – darunter Entscheidungen, die tief in nationale Rechtssysteme eingriffen. So erklärte der EGMR die Ermittlungen Russlands im Fall Nawalny für unzureichend, stoppte das britische Ruanda-Abschiebemodell per Eilanordnung und verurteilte die Schweiz im sog. Klimaseniorinnen-Urteil wegen unzureichenden Klimaschutzes als Verstoß gegen Art. 8 EMRK.

Zwischen politischem Druck und rechtlicher Autorität

Diese Rechtsprechung macht den Gerichtshof zum zentralen Akteur des europäischen Grundrechtsschutzes – und zugleich zum Ziel politischer Kritik. Russland erkennt seine Urteile seit Jahren nicht mehr an; auch in der Schweiz und im Vereinigten Königreich wurden nach unliebsamen Entscheidungen Stimmen laut, die einen Austritt aus der EMRK forderten. Dennoch bleibt die Bindungswirkung der Urteile völkerrechtlich bestehen, ihre Umsetzung wird durch das Ministerkomitee des Europarats überwacht.

Die EMRK im deutschen Verfassungsgefüge

In Deutschland steht die EMRK im Rang eines einfachen Bundesgesetzes, hat jedoch aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zu den Grundrechten des Grundgesetzes erhebliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht zieht sie regelmäßig als Auslegungshilfe heran und orientiert seine Rechtsprechung an den Maßstäben des EGMR. Damit fungiert die EMRK als Brücke zwischen nationalem und internationalem Recht – und als stetiger Impulsgeber für die Fortentwicklung der Grundrechtsdogmatik.

Mandatsgeheimnis und faires Verfahren

Als fundamentale Bestandteile der Menschenrechtsgarantien stärkt der EGMR das Mandatsgeheimnis und Verteidigerrechte. Er verortet das Anwaltsgeheimnis als rechtsstaatliches Wesensmerkmal in Art. 8 EMRK (Schutz der Privatsphäre) und Art. 6 EMRK (faires Verfahren), wobei letzteres die effektive anwaltliche Verteidigung zwingend voraussetzt. Zur Rechtsprechung des EGMR siehe ausführlich Kirchberg, BRAK-Mitt. 2018, 279.

Zukunft zwischen digitalem Wandel und geopolitischem Druck

Auch nach 75 Jahren bleibt die Konvention ein „living instrument“. Sie wird dynamisch ausgelegt, um neuen gesellschaftlichen und technologischen Herausforderungen – etwa im Bereich der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz oder des Klimaschutzes – gerecht zu werden. Der geplante Beitritt der Europäischen Union, der im Vertrag von Lissabon (2009) verankert ist, würde den Schutzrahmen schließen und auch EU-Institutionen an die Konventionsrechte binden.

Die Bilanz zum Jubiläum zeigt: 75 Jahre nach ihrer Unterzeichnung bleibt die EMRK unverzichtbar. Sie ist in Zeiten wachsender Spannungen Europas Rechtsgewissen – eine Zusicherung, dass Freiheit, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit nicht verhandelbar sind.

Weiterführender Link:

Erstveröffentlichung am 30.10.2025