Leitentscheidungsgesetz

Regierung beschließt schnellere BGH-Entscheidungen in Massenverfahren

Der BGH soll künftig über eine bei ihm anhängige Revision auch im Fall der Erledigung zur Orientierung für alle Instanzgerichte entscheiden können.

18.08.2023Gesetzgebung

Die Bundesregierung hat am Mittwoch, den 16. August 2023, den vom Justizministerium vorgelegten Entwurf für ein Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundegerichtshof (BGH) beschlossen.  Ziel ist die Entlastung der Gerichte in zivilrechtlichen Massenverfahren. Damit es hier künftig schneller zu einer höchstrichterlichen Entscheidung in entscheidungserheblichen Rechtsfragen kommen kann, soll der BGH eine bei ihm anhängige Revision als Leitentscheidung bestimmen können. Dies ermöglicht ihm, in den dort entscheidenden Rechtsfragen auch dann zu entscheiden, wenn sich das Verfahren aus anderen Gründen (etwa durch Rücknahme der Revision oder Vergleich) erledigt. Die Instanzgerichte sollen ihre Verfahren mit Zustimmung der Parteien aussetzen können, bis eine Leitentscheidung vorliegt.

Anlass für die geplante Gesetzgebung sind die zunehmenden massenhaften Einzelklagen in Verbrauchersachen wie aktuell etwa zum Dieselskandal oder wegen unzulässiger Klauseln in Fitnessstudio-, Versicherungs- oder Bankverträgen. Meist stellen sich in diesen Verfahren die gleichen entscheidungserheblichen Rechtsfragen. Ohne eine höchstrichterliche Klärung bleiben die Instanzgerichte jedoch immer wieder mit neuen Verfahren zu gleichgelagerten Sachverhalten belastet. Es dauert aber meist zu lang, bis es zu einer BGH-Entscheidung kommt. Gerade in Verfahren, in denen es um viel Geld geht, versuchen die Beklagten (meist große Unternehmen, im Dieselskandal z.B. der Autobauer VW) häufig, das Ergehen einer solchen Leitentscheidung zu ihren Lasten verhindern. Daher kommt es häufig zu Vergleichen und Rücknahmen bereits anhängiger Revisionen in diesen Streitfragen. Wenn diese Rechtsfragen aber erst einmal durch den BGH höchstrichterlich geklärt sind, können die Instanzgerichte ihre Verfahren zügig entscheiden.

Schnellere Klärung zentraler Rechtsfragen beim BGH

Daher soll der BGH jetzt die Möglichkeit bekommen, trotz Rücknahme oder Erledigung in einem von ihm bestimmten Leitentscheidungsverfahren die zentralen Rechtsfragen zu klären. Aus den bei ihm anhängigen Revisionen kann der BGH ein geeignetes Verfahren auswählen, das ein möglichst breites Spektrum an offenen Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist. Dieses wird dann in jedem Fall entschieden (§ 552b Zivilprozessordnung (ZPO) neu). Im Fall der Erledigung oder Rücknahme ist die Entscheidung dann zwar nicht bindend für die Parteien, dient aber den Instanzgerichten als Richtschnur und Orientierung dafür, wie die Entscheidung der Rechtsfragen gelautet hätte. Wird hingegen das Revisionsverfahren nicht von den Parteien beendet, ergeben sich keine Besonderheiten: Es ergeht ein herkömmliches Revisionsurteil mit inhaltlicher Begründung.

Ein neuer § 148 Absatz 4 ZPO regelt dann die Möglichkeit der Instanzgerichte, ihre Verfahren mit Zustimmung der Parteien bis zu einer Leitentscheidung des BGH auszusetzen. Durch Veröffentlichungen, z. B.  auf der Homepage des BGH und Pressemitteilungen, soll sichergestellt werden, dass die Gerichte und die Öffentlichkeit auch von dem Beschluss des BGH, ein Verfahren als Leitentscheidung auszuwählen, erfahren. Auch die Entscheidung selbst soll in gleicher Weise publik gemacht werden.

Ziele des geplanten Gesetzes sind damit die Entlastung der Zivilgerichte vor weiteren Klagen, eine bessere Effizienz gerichtlicher Verfahren und mehr Rechtssicherheit bei den betroffenen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Der BGH soll seiner Aufgabe der Rechtsfortbildung und -vereinheitlichung noch umfassender nachkommen können. In anderen Gerichtsbarkeiten wie der Arbeits-, Sozial-, Verwaltungs- oder Finanzgerichtsbarkeit soll das neue Verfahren hingegen keine Anwendung finden, weil die Konstellation der Massenverfahren hier in dieser Form nicht auftreten.

Neue Abhilfeklage soll ebenfalls Justiz entlasten

Justizminister Buschmann weist darauf hin, dass das Leitentscheidungsverfahren nicht das einzige Instrument ist, das in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, um die Justiz in Massenverfahren zu entlasten. Am 7. Juli hat der Bundestag das neue Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (über das wir im Juni berichtet hatten) beschlossen. Mit dem Gesetz wird eine neue Form der Sammelklage eingeführt – die sog. Abhilfeklage. Sie tritt selbstständig neben die bereits existierende Musterfeststellungsklage. Qualifizierte Verbraucherverbände und Verbraucherzentralen dürfen nun gleichartige Leistungsansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern gegen Unternehmen direkt gerichtlich einklagen.

Zuletzt wurden durch den Rechtsausschuss noch einige Änderungen am hier vorgestellten Gesetz vorgenommen: So wurden etwa die Voraussetzungen, unter denen kleine Unternehmen Verbraucherinnen und Verbrauchern prozessual gleichgestellt werden, verengt. Dies soll nur noch bei Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Jahresumsatz beziehungsweise einer Jahresbilanz von nicht mehr als zwei Millionen Euro greifen. Eine weitere Anpassung betrifft das Verbraucherquorum. Hier reicht es für die Zulässigkeit einer Klage nun aus, dass die klageberechtigte Stelle allein die mögliche Betroffenheit von mindestens 50 Verbraucherinnen und Verbrauchern darzulegen hat. Ein Beweis der tatsächlichen Betroffenheit ist für die Zulässigkeit einer Verbandsklage nicht mehr vorausgesetzt. (Artikel v. 16.06.2023 aktualisiert)

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