Keine Akteneinsicht gewährt: BVerfG rügt OVG Sachsen
Nach einer rechtswidrigen Abschiebung versagte das OVG einem Marokkaner die Rückkehr – ohne Akteneinsicht zu gewähren.
Das Sächsische OVG hatte einer Anwältin im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens Akteneinsicht verwehrt – dies wertete das BVerfG nun als Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz. Das Recht auf Akteneinsicht stehe „nicht zur Disposition des Staates und seiner Institutionen“, so das BVerfG. Am Rande der Entscheidung bezeichnete es das Verhalten der sächsischen Behörden in dem Fall als „nicht nachvollziehbare Missachtung einer verwaltungsgerichtlichen einstweiligen Anordnung im Vorfeld der Abschiebung“ (Beschl. v. 21. Mai 2025, Az. 2 BvR 2035/24).
Sächsische Behörden ignorierten Eilbeschluss des Gerichts
Ein marokkanischer Staatsbürger, der mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist, hatte beantragt, in die Region seiner Frau „umverteilt“ zu werden sowie einen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Dennoch wurde er festgenommen und zum Flughaften gebracht, um abgeschoben zu werden. Noch am selben Tag erwirkte seine Anwältin beim VG Chemnitz eine einstweilige Anordnung, wonach die Abschiebung bis zur Entscheidung über den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis vorläufig ausgesetzt werden sollte. Die zuständigen Behörden – die Stadt Chemnitz und die Zentrale Ausländerbehörde des Freistaates Sachsen – leiteten diesen Beschluss jedoch nicht an die Bundespolizei weiter. Die Begründung: Dieser sei fehlerhaft und daher nicht bindend, so dass eine Weiterleitung des Beschlusses nicht erfolgen werde. Die Abschiebung wurde noch am Abend desselben Tages vollzogen. In der Folge verpflichtete das VG die Behörden, die Wiedereinreise des Mannes zu ermöglichen.
Das OVG Sachsen hob diese Entscheidung des VG jedoch auf und lehnte auch den ursprünglichen Eilantrag ab. Es bestehe außerdem keine Veranlassung, Akteneinsicht zu gewähren, da sich die entscheidungstragenden Aspekte bereits aus den im gerichtlichen Verfahren gewechselten Schriftsätzen ergäben und es auf die Kenntnis des Akteninhalts damit nicht ankomme. Zudem stehe der Gewährung von Akteneinsicht eine besondere Eilbedürftigkeit entgegen, weil die vom VG gesetzte Frist zur Rückholung des Mannes am Folgetag ablaufe.
Die Anwältin legte für den Mann wegen der Nicht-Gewährung von Akteneinsicht Verfassungsbeschwerde ein und rügte eine Verletzung in Art. 6 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG.
BVerfG: „grundlegendes Missverständnis von der Bedeutung der Akteneinsicht“
Das Bundesverfassungsgericht hielt die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet: Trotz der vollzogenen Abschiebung bestehe in diesem Fall ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse. Die angegriffene Entscheidung habe eine erhebliche Grundrechtsverletzung bewirkt und eine anderweitige gerichtliche Überprüfung sei ihm angesichts des engen Zeitrahmens nicht möglich gewesen. Zudem verletze der Beschluss des OVG den Abgeschobenen in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 bzw. Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG. Das Sächsische OVG habe die Bedeutung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz grundlegend verkannt, indem es die Akteneinsicht ohne hinreichende rechtliche Grundlage verweigerte. Dieser Anspruch, so das BVerfG, sei nicht nur einfachgesetzlich in § 100 Abs. 1 VwGO geregelt, sondern zugleich Ausprägung des grundrechtlich verbürgten Anspruchs auf ein faires Verfahren und rechtliches Gehör.
In dem Hauptargument des OVG, es komme auf Inhalt und Kenntnis der Akte für das Verfahren nicht an, zeige sich „ein grundlegendes Missverständnis von der Bedeutung der Akteneinsicht, die grundsätzlich nicht zur Disposition des Staates und seiner Institutionen steht“, so das BVerfG. Es stehe dem OVG „nicht zu, darüber zu befinden, ob der Akteninhalt für den Beschwerdeführer wesentlich ist oder nicht“. Im Übrigen könne nur die Einsicht in die Verfahrensakte die für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes grundlegende Frage beantworten, ob die Mitteilungen des Gerichts an die Verfahrensbeteiligten vollständig und zutreffend seien. Das „Fehlverständnis des Oberverwaltungsgerichts“ gewinne „noch dadurch an Gewicht“, dass das Gericht dem Mann unzureichendes Vorbringen vorgehalten habe. Gemeint ist der Hinweis, dass er keine ausreichenden Informationen zu seiner Ehe als Abschiebungshindernis vorgetragen habe.
Zeitdruck war kein Argument
Auch der zeitliche Aspekt, den das OVG hier angebracht hatte, verfängt beim BVerfG nicht: Es sei nicht nachvollziehbar, inwiefern die Gewährung von – zumal elektronischer – Akteneinsicht zu einer weiteren und relevanten Verfahrensverzögerung hätte führen sollen. Nach der bereits erfolgten Abschiebung habe kein außergewöhnlicher Zeitdruck mehr bestanden. An dem Fristablauf zur Rückholung des Mannes, den das VG für den Folgetag der OVG-Entscheidung gesetzt hatte, könne es auch nicht liegen. Denn dass das OVG so kurz vor Ablauf dieser Frist entschieden habe, liege maßgeblich am OVG selbst: Es hatte die Anwältin des Mannes erst drei Tage nach Eingang der Beschwerde über diese in Kenntnis gesetzt. Außerdem weist das BVerfG darauf hin, dass dem OVG der Erlass eines Hängebeschlusses freigestanden hätte.
Nicht Verfahrensgegenstand der Verfassungsbeschwerde war das Verhalten der sächsischen Behörden (der Stadt Chemnitz und des Freistaats Sachsen – Landesdirektion, Zentrale Ausländerbehörde), die Anordnung des VG nicht an die Bundespolizei weiterzuleiten. Dennoch kommentierte das BVerfG dieses als „unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht nachvollziehbaren Missachtung einer verwaltungsgerichtlichen einstweiligen Anordnung im Vorfeld der Abschiebung.“
Im Ergebnis wurde die Entscheidung des OVG aufgehoben und die Angelegenheit zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Der Anwältin muss nun Akteneinsicht gewährt werden, so dass sie prüfen kann, ob sie ggf. relevante, den Behörden noch nicht bekannte Informationen zur Ehe des Marokkaners vortragen kann.